Proust-Faszination und Prousts Faszination

von Lars Henk

Veröffentlicht am
6.12.22

Studierende

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Einen – von vielen, so muss ich wohl hinzufügen – blinden Fleck in meiner Lesebiographie bildete bis zu diesem Semester Marcel Prousts siebenbändiges Epochenfresko A la recherche du temps perdu, in dem der Autor die Belle Époque auf eine Weise porträtiert, die in der französischen Literaturgeschichte ihresgleichen sucht. Als begeisterter Leser realistischer und naturalistischer Literatur, der insbesondere in der Gesellschaftstotalen des Second Empire von Émile Zola sein literarisches Vergnügen findet, hätte ich mich wohl auch früher mit Prousts ebenfalls soziologisch anmutender Darstellung sozialer Welten in meinen Lesesessel vor dem Kamin zurückziehen können, auch wenn oder gerade weil seine Inthronisierung der Subjektivität der – zumindest proklamierten – Objektivität eines Zola widerspricht. Eine frühzeitige Lust auf eine Proust-Lektüre hätte mich außerdem erfassen können, weil er mir bereits in meiner romanistischen Einführungsveranstaltung Grundlagen der französischen Literaturwissenschaften begegnete, als Herr Schuhen uns im Wintersemester 2013/2014 in der zweiten Sitzung den ersten Satz der Recherche präsentierte. Zwar hallte der melodische Klang der Worte in mir nach, jedoch verzichtete ich auf eine Auseinandersetzung mit Marcel und so entdeckte ich Proust erst als Doktorand im Wintersemester 2021/2022.

Meine Lektüreerfahrung des Auftakts der Romanserie, mit dem wir uns im Seminar beschäftigten, lässt sich wohl am besten mit dem Begriff der Faszination veranschaulichen. Dabei möchte ich die Herausforderungen, gar negativen Aspekte keinesfalls verschweigen. Proust fesselte mich sprichwörtlich und ich erkannte wie erbarmungslos dies sein kann. Erbarmungslos, weil sich mit jeder umgedrehten Seite die Hoffnung auf ein Satzzeichen enttäuscht. Erbarmungslos, weil gerade dies das Verständnis sichtlich erschwert. Erbarmungslos, weil ich doch tatsächlich am nächsten Tag schon nicht mehr wirklich weiß, was ich gestern gelesen habe! Sei’s drum, reizvoll ist der Roman über den namenlosen Ich-Erzähler, seine traumatischen Erfahrungen, sein Erwachsenwerden und den titelgebenden M. Swann dennoch. Meine Faszination für Proust speist sich in erster Linie aus Prousts Faszination für den literarischen und wissenschaftlichen Kosmos, in dem er sich am Ende des 19., zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewegt, wenngleich ich natürlich nicht garantieren kann, dass Proust tatsächlich davon begeistert gewesen ist. Äußerst geschickt adaptiert er zumindest literarische Motive und zeitgenössische Diskurse aus Naturwissenschaft und Philosophie für seine literarischen Zwecke: Die metaphysischen Verweise reichen dabei von der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte, über die pythagoreisch-hinduistische Seelenwanderung, bis zu Platons Höhlengleichnis, ganz zu schweigen davon, wie der Jude Marcel Proust die biblischen Narrative der Samson-Episode oder der Passion Christi aufgreift und mit der Erfahrung des schlaflosen Ich-Erzählers verknüpft. Wie Proust es generell gelingt, die mannigfaltigen Traditionen der Weltdeutung als Fäden miteinander zu verweben, ist wohl eine große kompositionelle Kunst. In der Tat verstärkte jede gemeinsam unternommene Textanalyse die Einsicht, wie genial Proust seinen ersten Roman arrangiert hat. Ich verstehe inzwischen, warum Monets Kathedralen in verschiedenen Lichteinstellungen die alten Cover der Romanausgaben zieren. Der kunstvoll gewebte Roman – was ist ein Text auch anderes? – zeigt eindrücklich auf, dass sein Autor ein Meister der willkürlichen Intertextualität ist. Noch immer denke ich daran, dass das Aufwachen des kleinen Jungens dabei dem Aufstieg des angeketteten Gefangen aus der Höhle zum Licht und damit zu den reinen Formen gleicht.

Apropos Schlafen: Bei Proust stieß ich überraschenderweise auf eine literarisch eingekleidete Abhandlung darüber, was es genau bedeutet, wenn der unermesslichen, unbestimmbar wabernden Dauer der Schlaflosigkeit nicht zu entkommen ist. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass er damit eine phänomenologische Fingerübung eines menschlich existentiellen Erlebnisses vorlegt, die erst Emmanuel Levinas wirklich philosophisch durchdrungen hat. In seinem Frühwerk schreibt dieser nämlich über die ‚unerträglichen Dimensionen‘, das blinde, anonyme Rauschen des Seins anhand des Zustands der Schlaflosigkeit. Dass Proust nicht nur philosophische, sondern auch naturwissenschaftliche Einsichten literarisch vorwegnimmt, belegen die psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen Untersuchungen insbesondere der Mutter-Kind-Beziehung.

Fasziniert bin ich nicht zuletzt auch von der Akribie dieses Schriftstellers, der sein junges Leben mehr oder minder freiwillig opfert, um sein monumentales Werk abschließen zu können.

Fest steht, dass – auch wenn meine Vorliebe weiterhin Zola gilt – ich in Prousts origineller Abwendung von einem ,äußeren Realismus‘ à la Balzac, wie Gregor Schuhen stets sagte, von der meisterhaften Untersuchung der „Intermittences du coeur“, der subjektivsten Eindrücke, die der Erzähler macht, gefesselt worden bin. Was mag mir wohl dahingehend der nächste Band verraten?

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