Teresa Hiergeist ist nach ihrem Studium in Regensburg, Stationen in Lyon, Erlangen und Kökn seit 2020 Professorin für französische und spanische Literatur- und Kulturwissenschaft in Wien.
Vielen Dank, Frau Hiergeist, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Was hat Sie dazu bewogen, 2004 in Regensburg Französisch und Spanisch zu studieren?
Nach dem Abitur habe ich zunächst zwei Semester Architektur studiert, allerdings wurde ich mit dem Fach Statik nicht so richtig warm. Deshalb habe ich mich daran erinnert, wie begeistert ich in der Schule Französisch gelernt habe und wollte mich in den Studiengang Deutsch-Französische Studien in Regensburg einschreiben. Ich konnte allerdings nicht aufgenommen werden, weil der Andrang zu groß war. So kam es am Ende zum Magister Spanische Philologie/ Vergleichende Kulturwissenschaften und Master Romanische Philologie (Französisch/ Spanisch). Spanisch habe ich gewählt, weil ich zu der Zeit mit einem Argentinier liiert war. Die Beziehung zu ihm hat nur kurz gehalten – die Romanistik ist geblieben.
Was hat Sie an Ihrem Studium begeistert?
In den ersten Semestern war ich von der Tatsache fasziniert, dass es nicht so entscheidend ist, was wir kommunizieren, sondern wie wir es tun, davon, wie die verschiedenen Ebenen literarischer Texte zusammenwirken, um Bedeutungen und Wirkungen zu generieren. Mich hat auch die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Regensburger Romanistik angesprochen. Dass unser gesamter Alltag durchzogen ist von Werten, Normen und Machtstrukturen, dass wir nichts tun und sagen, nichts sein können, ohne uns einzuschreiben in ein historisch gewachsenes Geflecht aus kulturellem Sinn, das war für mich eine augenöffnende Erkenntnis – die ich bis heute hochspannend finde.
Wer hat Sie geprägt?
Das Wort ‚geprägt‘ mag ich nicht so gern. Fragen wir stattdessen vielleicht, mit wem ich in Resonanz war? Mit meinem Doktorvater Jochen Mecke: Ich habe ihn für seine analytische und kritische Haltung und seinen Mut zur These als Studentin und danach bewundert. Mit dem Kulturwissenschaftler Daniel Drascek: Sein Blick für die Bedeutungsträchtigkeit kleinster Gegenstände, kommunikativer Akte und Handlungen hat mich angesteckt. Mit Matei Chihaia: Er hatte eine sehr subtile und theoretisch gespeiste Art, Literatur und Medien zu betrachten. Mit Sabine Friedrich: von ihr habe ich viel über strategische Karriereplanung gelernt und wie man als Frau an der Uni auch nach der Diss und Habil bestehen kann. Mit dem Germanisten Harald Neumeyer: An seine Auffassung der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse lehne ich mich nach wie vor gern an. Ich bin sehr dankbar, bei diesen Personen lernen haben zu dürfen. Aber das In-Resonanz-Sein ist ja so vielfältig: Ich war es mit den Mitgliedern des DFG-Netzwerks ‚Paragesellschaften‘, mit denen ich drei Jahre in engem wissenschaftlichem Austausch stand. Ich bin es tagtäglich mit meinen Doktorand:innen, die im Bereich queer und feminist studies aktiv sind und diesbezüglich meinen Horizont erweitern, mit meinen Kolleg:innen, mit denen ich Projekte und Ideen diskutiere, mit meinen Studis, die immer wieder auf Ideen kommen, an die ich selbst nicht gedacht habe.
Wann hat für Sie festgestanden, in der Forschung bleiben zu wollen?
Das hat sich Schritt für Schritt ergeben. Im Studium habe ich gemerkt, dass ich interessierter war als die übrigen Studierenden. Dann bin ich, Hilfskraft geworden, Lektorin an der ENS Lyon, LfbA in Regensburg und Mitarbeiterin und akademische Rätin a.Z. an der FAU Erlangen-Nürnberg. Nach der Habil konnte ich gleich in Köln vertreten, anschließend habe ich das Heisenberg-Stipendium bekommen und schließlich hatte ich unmittelbar einen Ruf nach Wien. Ich hatte das große Glück, dass es irgendwie immer nahtlos weiterging und dass Menschen um mich herum waren, die mich weiterempfohlen und gerne mit mir zusammengearbeitet haben.
Ihre Habilitation hat die Human-Animal-Studies für die Romanistik erschlossen. Wie kam es zu dieser Themenwahl?
Das war damals eine gleichzeitig interessengeleitete und strategische Entscheidung. Seit meinem Auslandssemester in Granada hatte ich eine große siglo de oro-Leidenschaft. Die habe ich dann mit dem neusten Paradigma kombiniert, das damals zirkulierte. Nachdem ich mich in unzählige Primärtexte zu Tieren in der Frühen Neuzeit eingelesen hatte, hat sich das Thema der aristokratischen Kampfspiele herauskristallisiert. Mein Korpus war sehr breit angelegt: Ich hatte Jagd- und Stierkampftraktate, Festdichtungen, Reiseberichte und natürlich auch kanonische Texte wie den Don Quijote oder Theaterstücke von Lope de Vega und Tirso de Molina auf meinem Schreibtisch liegen.
Sie haben also fiktionale und faktuale Texte behandelt?
Genau. Keine Grenze zu ziehen zwischen fiktionalen und faktualen Texten hat für mich Sinn ergeben, denn alle haben ja Teil an der Konstruktion und Verhandlung von Identitäten, Werten, Normen und Machtverhältnissen. Die vielfältigen Facetten der Mensch-Tier-Beziehungen in repräsentativen Kontexten zu beleuchten, war mein Ziel. Genuin literaturwissenschaftlich ist für mich nicht der Status des jeweiligen Texts, sondern die Methode, also die systematische Analyse der unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen mit ihren jeweils eigenen ästhetischen, gattungsmäßigen und historischen Implikationen.
Wo liegen aktuell die Schwerpunkte Ihrer Forschung?
Das Thema, das mich seit etwa zehn Jahren nicht loslässt, sind Formen des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Miteinanders. Ich habe mich mit Freundschaften, Liebesbeziehungen und politischen Allianzen im siglo de oro, mit anarchistischen Utopien um 1900, mit der Infragestellung der Ehe im 19. Jahrhundert, mit Parallel- und Alternativgesellschaften und queeren Beziehungsformen in den Gegenwartskulturen auseinandergesetzt. Mich interessiert, was Menschen zusammenhält, wie sich Vorstellungen des Zusammenlebens soziokulturell und historisch situieren und wandeln, was es braucht, damit der Eindruck von Kohäsion entsteht, wie sich Ich und Wir zueinander verhalten und vor allem: welche Ästhetiken diese Imaginationen des Sozialen bestimmen und welche Rolle Literatur und Film bei der Gestaltung des Miteinanders spielen.
Zu welchen Imaginationen des Sozialen arbeiten Sie gegenwärtig?
Meine dritte Monographie Der Staat im Kleinen. Imaginationen von Schule als Gesellschaftsutopie in Frankreich und Spanien um 1900 ist soeben erschienen. Sie fragt danach, welche Auffassungen von staatlicher Organisation, Staatsbürger:innenschaft, Mündigkeit, Handlungsfreiheit, gesellschaftlicher Einheit und vom Menschsein sich in den Diskursen zur Schulbildung spiegeln. Dazu habe ich pädagogische, psychologische und politische Traktate, Lehr- und Kinderbücher sowie Schulfiktionen analysiert. Ich wollte das politische Oszillieren Frankreichs und Spaniens zwischen Monarchie und Republik in der Frühphase des Konstitutionalismus verstehen und habe dabei entdeckt, dass hier die Wurzeln einer Gesellschaftsauffassung zu finden sind, die für die beiden Länder bis heute prägend geblieben ist.
Auch wir haben zu Imaginationen des Sozialen vor dem Hintergrund der Dominanz von Bourdieus Soziologie in der französischen Gegenwartsliteratur geforscht. Wie bewerten Sie die soziologisierte Literatur?
Die Soziologie ist eine Disziplin, die die Gesellschaft zum Untersuchungsgegenstand macht und diese damit auch zu einem gewissen Grad zur Debatte stellt. Ihre Herausbildung im 19. Jahrhundert zeugt von einem diskursiven Wandel: weg von einem essenzialistischen hin zu einem stärker konstruktivistischen Wirklichkeitsbezug. Die Beobachtung, dass Macht- und Kapitalverteilungen für die bestehenden Sozialstrukturen ursächlich sind, hat auch etwas Anti-Deterministisches. Im soziologischen Diskurs manifestiert sich also die Dynamisierung der Gesellschaftsauffassung. Gleichzeitig schreibt die Soziologie bestimmte Kategorien in der Reflexion über diese auch fest. Wenn die Gegenwartsliteratur auf die Soziologie Bezug nimmt, dann geschieht das womöglich deshalb, weil die Fragen, wie wir zusammenleben wollen und was Gemeinschaft eigentlich ist, angesichts zunehmender sozialer und politischer Spaltungen und angesichts medialer Veränderungen aktuell eine große Brisanz erreichen und diese Haltungen gerade neu verhandelt werden wollen. Aber ihr kennt euch in dem Bereich ja viel besser aus.
Kommen wir zur Zukunft der Romanistik: Haben Sie eine Ahnung, in welche Richtung sich die Romanistik entwickeln wird?
Ich habe natürlich keine Kristallgugel, aber ich beobachte gegenwärtig zwei Tendenzen in den Literaturwissenschaften, eine Rephilologisierung einerseits und eine kulturwissenschaftliche Öffnung andererseits. Beides hat seine Berechtigung und ich finde nicht, dass sie sich gegenseitig ausschließen müssen. Die Philologie darf Teil kulturwissenschaftlicher Ansätze sein wie auch umgekehrt.
Sie sind nun seit einigen Jahren Professorin in Wien. Machen Sie Unterschiede zwischen der Romanistik in Deutschland und in Österreich aus?
Wien hat im Vergleich zu den deutschen Unis, an denen ich gearbeitet habe, das stärkste kulturwissenschaftliche Profil. Im Curriculum ist zudem eine medienwissenschaftliche Säule verankert, die auch sehr selbstbewusst gelebt wird. Die Wissenschaftspraxis ist auch etwas anders: Das peer-review hat einen extrem hohen Stellenwert und es passiert etwas selbstverständlicher, dass romanistische Tagungen auf Englisch (statt in einer romanischen Sprache) abgehalten werden. Auswahlverfahren funktionieren umgekehrt als in Deutschland, da zuerst Gutachten von allen Bewerber:innen angefordert werden und im Anschluss erst das Vorsingen stattfindet. Und es scheint mir in Wien häufiger als an den anderen mir bekannten deutschen Unis vorzukommen, dass der Rektor Berufungslisten dreht und den Verfahrensablauf entscheidend mitbestimmt.
Gibt es ein Äquivalent zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz in Deutschland?
2021 wurde die Novellierung des Universitätsgesetzes angeregt. Der §109, in dem es um die Festlegung maximaler befristeter Anstellungsjahre geht, hat seitdem für viel Aufruhr und Protest gesorgt. Man darf hier seither in Österreich nach der Dissertation maximal acht Jahre lang an der gleichen Universität angestellt sein, Projektanträge und Lehraufträge inklusive. Dass dies auch rückwirkend festgelegt wurde, hat beispielsweise dazu geführt, dass sogar Personen, die einen lukrativen Grant herangeschafft haben, mitten im Projekt die Universität verlassen mussten, weil ihre Frist abgelaufen war. Da ist auf jeden Fall noch Luft für Nachbesserungen.
In Deutschland wird über einen Gesetzesvorschlag diskutiert, den Zeitraum auf vier Jahre zu verkürzen…
In vier Jahren eine Habil zu schreiben, ist schwer vorstellbar. Man verbringt ja in der Regel das erste Jahr damit, seine Doktorarbeit zu veröffentlichen und sich in ein neues Thema einzulesen. Wenn dann ein:e umtriebige:r Chef:in, eine Krankheit, ein Kind oder eine andere Unwägbarkeit dazukommt, wird es unschaffbar. Ich halte das für einen Systemdruck, der unnötigen Stress und unnötiges Leid erzeugt. Das macht die Wissenschaft nicht produktiver, sondern blockiert sie eher.
Erleben Sie auch einen Rückgang der Studierendenzahlen in Wien?
Wir hatten deutliche Einbrüche durch Corona und tun uns immer noch schwer, wieder Fahrt aufzunehmen. Deshalb fühlt man sich in manchen rumänischen und portugiesischen Lehrveranstaltungen gerade etwas einsam, aber auch in französisch, spanisch und natürlich italienisch ist es spürbar. Ich glaube, dass die Philologien besonders darunter gelitten haben, dass der persönliche Kontakt weggefallen ist. Auch habe ich den Eindruck, dass das Interesse an den Geisteswissenschaften generell zurückgegangen ist. Das Bildungsministerium setzt in Österreich aktuell stark auf die Naturwissenschaften. Das macht sich in den Schulstundenplänen bemerkbar und führt dann natürlich auch dazu, dass es weniger Absolvent:innen in unsere Kursräume schaffen.
Was tun Sie konkret, um Studierende in die Romanistik zu locken?
Wir haben massive Werbemaßnahmen unternommen, ein Image-Video gedreht, eine Posterkampagne gemacht, Schulklassen zu uns eingeladen, einen Tag der offenen Tür mit 500 Schüler:innen veranstaltet etc. Dieses Onboarding ist unumgänglich geworden. Auch kümmern wir uns rührend um die Studierenden, die wir haben, mit Extra-Prüfungsterminen, einer engmaschigen Masterarbeitsbetreuung und vielfältigen Unterstützungsangeboten gerade in der Studieneingangsphase.
Das können wir in Landau bestätigen. Haben Sie noch einen Tipp für den wissenschaftlichen Nachwuchs?
Es ist schwierig, Tipps zu geben, die nicht entweder banal oder frustrierend sind. In der Dissertation sollte man ein Thema verfolgen, für das man brennt, und es möglichst zielstrebig durchziehen. Danach ist es wichtig, schnell die zweite Qualifikationsschrift zu starten. Außerdem strategisch überlegen: Dazu gehört, sich auf Tagungen zu präsentieren, sich mit Leuten zu vernetzen und sich ein klares Profil zu erarbeiten. Gut ist, wenn sich über die eigenen Projekte und Publikationen eine kohärente Geschichte erzählen lässt. Es gehört heute auch dazu, einen Drittmittelantrag durchgebracht zu haben. Bestimmte Bausteine müssen da sein. Man sollte sich bei alldem aber immer vor Augen halten, dass sich ein Ruf nur zu einem gewissen Grad erarbeiten lässt und dass es am Ende auch viel mit Glück zu tun hat, ob man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Ich wünsche es allen, die im Mittelbau sind, dass es ihnen trotz des enormen Drucks, der auf ihnen lastet, gelingt, eine Art ‚Playermentalität‘ zu entwickeln. In einem Spiel kann es durchaus sein, dass man mal angespannt ist, dass man sich verkleidet, dass man zeitweise vielleicht auch mehr einsetzt, als man sich leisten kann oder dass man die Spielregeln nicht ideal findet, aber alldem liegt dennoch eine gewisse Leichtigkeit zugrunde. Verhalte dich in jedem Moment so, dass du das Gefühl haben kannst, dass du mit der Uni spielst und nicht die Uni mit dir.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Hiergeist.
Der neue französische Shootingstar Zaho de Sagazan tourt durch Deutschland
Partie IV: Prof. Dr. Jochen Mecke im Interview
Interview mit Marie-Hélène Lafon