Die sich ewig wiederholende Flucht vor dem Feuer und die damit verbundene Frage, was es wert ist, vor den Flammen gerettet zu werden, steht im Zentrum des neuen Romans von Hélène Cixous. Der Grande Dame der écriture féminine und der philosophischen Bewegung der Dekonstruktion ist abermals ein mitreißender und faszinierender Roman gelungen. Auch auf ihr neuestes Werk – inzwischen sind es über 60! – trifft die Selbstbeschreibung von Cixous zu, mit der sie ihre meist schmalen Romane charakterisiert: „[C]’était en apparence un tout petit récit, mais seulement, comme toujours, en apparence; un immense tout petit récit“ (dt.: „[E]s war scheinbar eine ganz kleine Erzählung, aber, wie immer, nur scheinbar; eine riesige ganz kleine Erzählung.“). Die ‚Immensität‘ des Textes ergibt sich nicht zuletzt aus der für Cixous typischen Intertextualität: Die Referenzen reichen von alttestamentarischen Schriften über Vergil, Shakespeare, Hugo, Balzac und Baudelaire bis hin zu ihren eigenen Romanen. Ebenso ‚immens‘ nimmt sich der zeitliche Rahmen der Ereignisse aus, der sich von 1492 bis 2022 erstreckt.
Auch formal bleibt sich die Autorin treu. Dem Leser begegnen erneut eine Vielzahl an Leerzeilen, stellenweise fehlende Interpunktion, Anakoluthe und Aposiopesen sowie das bereits vertraute Spiel mit Homonymie und Polysemie. Inhaltlich stellt dieser Roman durch die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte sowie der erlittenen -schicksale väterlicher- und mütterlicherseits eine Verbindung zu ihren bisherigen Veröffentlichungen her und reiht sich damit beinahe nahtlos in das cixoussche Œuvre ein.
Auf den ersten Blick erscheinen die Einzelschicksale des kaum mehr nachvollziehbaren Familienstammbaums der Familien Klein/Jonas (mütterlicherseits) und Cixous (väterlicherseits) als vollkommen unterschiedlich und nicht zueinanderpassend. Und doch identifiziert Cixous hier eine Gemeinsamkeit, die beide Familienzweige zusammenführt: Das ewige Fliehen vor einer (Brand-)Gefahr: „Fuir recommence, c’est plus fort que moi. Selon ma fille au commencement du recommencement il y a un traumatisme. Fuir, et fuir la fuite, c’est ma loi. Fuir, jusqu’à un certain point, je ne pense qu’à ça“ (dt.: „Das Fliehen beginnt wieder, es ist stärker als ich. Laut meiner Tochter steht am Anfang des Neubeginns ein Trauma. Fliehen und vor der Flucht fliehen, das ist mein Gesetz. Fliehen, ist, bis zu einem bestimmten Punkt, alles, woran ich denken kann“). Es ist die Flucht vor der steten Vertreibung, um dem Feuertod zu entkommen. Beginnend mit dem Alhambra-Edikt von 1492, also dem Erlass des spanischen Königs Fernando II von Aragón zur Vertreibung der Juden aus seinem Königreich, über die Shoah im Dritten Reich, der Niederbrennung der Synagoge in Osnabrück in der Reichskristallnacht 1938, den Luftangriffen auf Dresden 1944, dem Erdbeben im algerischen Orléansville 1954, sowie weiteren Großbränden in Atlanta und Philadelphia, führen die im Roman geschilderten Ereignisse zu einem incident im Jahr 2022, als in Cixous’ Wohnort Arcachon ein Feuer ausbrach, das auf ihr Wohnhaus übergriff und kurz vor ihrer Wohnung im 9. Stock Halt machte. Doch wie so oft, gelang der Autorin auch diesmal die Flucht.
Und genau hierin liegt das Gesetz ihrer Flucht, die Wahrheit des Exodus: Es ist das Gesetz der ständigen Wiederholung der Vertreibung. Wie einst Äneis aus Troja und Cixous’ Mutter Eva Klein aus Osnabrück, flieht nun auch wieder H. C. aus Arcachon, um den sie einkreisenden Flammen zu entkommen. Neben der existentiellen Frage, ob man bleiben oder fliehen soll, und somit dem Perpetuum mobile seinen Lauf lässt, stellen sich für die Erzählerin noch weitere Fragen: Qu’est-ce qu’on emporte (dt.: Was nimmt man mit?), wie es im Untertitel des Buches heißt? Was wird benötigt, um das Archiv der Erinnerungen an die eigene Familiengeschichte zuretten? Was opfert man den Flammen? Was rettet man vor dem Vergessen? Wie soll man der stetigen Flucht begegnen?
Einen Hinweis auf den Umgang mit dem Brand findet sich bereits im Titel. Incendire, eines von vielen Wortspielen der Autorin, setzt sich aus den Wörtern ‚incendie‘ (Großbrand) und ‚dire‘ zusammen, was unter anderem ‚sagen‘, ‚verraten‘ aber auch ‚aussprechen‘ bedeutet. Es scheint, als riefe uns der Roman ein stetiges und trotziges „Und dennoch!“ zu. Das Erzählen der Flucht erweist sich als ein Anschreiben gegen das Vergessen. Das Unnennbare benennen. Und damit das Unvergessliche nicht vergessen machen. Die Autorin stellt sich den Flammen schreibend entgegen. Ein Schreiben, das zum Ziel hat, das Vergessen und den Tod aufzuschieben. Abermals erfolgt der Rückverweis auf Cixous’ eigene Philosophie und auf die ständige Vermischung von Fiktion mit derselben, auf der die écriture féminine beruht und für die die Autorin zurecht geschätzt wird. Incendire bildet damit wahrhaftig einen weiteren „immense tout petit récit“.
Hélène Cixous: Incendire. Qu’est-ce qu’on emporte? Paris: Gallimard, 176S.
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