Die Stimmen von erschütterten, von zerstörten Seelen

Laurent Gaudé erzählt von der Schicksalsnacht der Pariser Attentate am 13. November 2015 im Stil einer klassischen Tragödie

Veröffentlicht am
30.6.2025
Walburga Hülk

Walburga Hülk

Universität Siegen
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Kann man, nachdem Emmanuel Carrère in V 13 (2022) den Prozess gegen die islamistischen Attentäter des 13. November 2015 nachgezeichnet und seinen Lesern und Leserinnen die Angeklagten, die Opfer und Angehörigen auf bedrückende, kaum auszuhaltende Weise nahegebracht hat, noch eine Erzählung über die Anschläge schreiben? Laurent Gaudé (geb. 1972 in Paris), der 2002 mit dem Prix Goncourt des Lycéens und 2004 mit dem Goncourt-Preis ausgezeichnete Roman- und Theaterautor, hat es getan. Der Text trägt den Titel Terrasses und ist der kanadischen Raum- und Videokünstlerin Stephanie Jasmin, dem kanadischen Theaterschauspieler und -regisseur Denis Marleau und „allen, die sich an jenem Abend als Pariser und Pariserin fühlten“, gewidmet. Vorangestellt ist das Motto: „Die Geschichtsschreibung wird die Erzählung der Tatsachen vornehmen. Wer wird von den Seelen erzählen?“

Der Verlag Actes Sud bezeichnet den Text als „récit“. Terrasses, eine „Erzählung“, trägt Züge einer klassischen Tragödie, verdichtet auf diesen einen Tag, der Paris und Frankreich veränderte. Der Ort: die Café-Terrassen im 10. und 11. Arrondissement und der Konzertsaal Bataclan; von dem gleichzeitigen Attentat auf das Stade de France in Saint-Denis, in dem das Fußball-Länderspiel Frankreich – Deutschland läuft, erfährt man über Medien, Boten unserer Zeit, so wie es immer ist, auch bei dem späteren Anschlag auf den koscheren Markt in Saint-Denis oder anderen Anschlägen an anderen Orten. Die Handlung: die koordinierten Terrorakte in der Rue Alibert, Rue du Faubourg-du-Temple, am Quai Voltaire, das Massaker im Bataclan, die unmittelbaren Reaktionen, die Stürmung der Gebäude, die Bergung der Opfer, die Erschießung der Haupttäter. Die Form: zehn Szenen mit einem vielstimmigen Chor, zusammengesetzt aus Opfern, Angehörigen, Einsatz- und Spezialkräften der Polizei, aus Ärzten, Ärztinnen und OP-Schwestern. 

Eine junge Frau begehrt eine andere und fiebert dem ersten Kuss entgegen, beide treffen sich auf der Terrasse eines Cafés in einem der angesagten Arrondissements. Wer sieht wen zuerst, nimmt welchen Stuhl, „mit dem Rücken zur Bar oder zur Straße hin?“ Keine von beiden ahnt, dass dies überlebenswichtig sein wird. Ein junger Mann schaut seiner Partnerin hinterher, die nach einem Streit, „jeder in seinem Schützengraben“, die kleine Tochter umarmt und zum Rockkonzert aufbricht, einen „gewonnenen Abend“ vor sich. Zwillingsschwestern, eine in Barcelona, eine in Paris lebend, feiern ihren Geburtstag wie immer zusammen, in diesem Jahr in einem „restaurant sympa“ mitten in Paris, drinnen oder draußen. Es ist ein milder Spätherbsttag, Cafés, Restaurants und Bars sind voller Menschen, die sich kennen oder noch nicht kennen. Niemand weiß, dass an diesem lebendigen Abend der „Gott des Zufalls“ die Herrschaft an sich reißt, dass das Schicksal gerade mit überhöhter Geschwindigkeit in einem Kleinwagen heranbraust und zuschlägt: „Le Hasard. – Du, ja, du, nein.“ In der Nähe, im Bataclan, beginnt das Gemetzel, wie in alten Zeiten entscheidet das Los über Leben und Tod. „Wen trifft eine Kugel? Und wen nicht? – Ils tirent, ils tirent. Ils tirent encore. Cela ne s’arrête pas.“ Sich ducken, wegschauen, keine Bewegung, sich totstellen. „Wenn die Hölle existiert, sind wir darin. Die Langsamkeit ihrer Gesten, wenn sie sich einem Körper nähern. Die Sicherheit, mit der sie uns beherrschen. Ihre Ruhe. Nichts gibt es mehr angesichts all dessen – nur unsere Angst.“

Als die ersten Meldungen über eine Attentatslage eintreffen, haben Polizistinnen, Polizisten, Einsatzkommandos, Rettungskräfte, Notaufnahmeteams – Amélie, Quentin, Karim, Carole, Jérémy und die anderen – einen ganz normalen Tag hinter sich, Unfälle, Schlägereien, häusliche Gewalt. Die meisten sind jung, doch längst eingeübt, was heißt denn „Attentat“, wenn nicht: Begleichung einer Rechnung, rivalisierende Banden, Vorbestrafte, Rache. Aber diesmal fahren sie mit Blaulicht zu einem „Kriegsschauplatz“, Maschinengewehre, Sprengstoffgürtel, Geiselnahmen, das heißt: keine Zeit für koordinierte Planungen, „wir müssen taub sein für alles, was uns umgibt, nur vorwärts“. Dann kommen die Rettungswagen, Ärzte, Sanitäter. Auf Hilferufe und Blicke nicht reagieren, „wir sterben“, Verwundete zurücklassen, Prioritäten setzen, Entscheidungen treffen, Triage: „Ich allein muss entscheiden, wer gerettet werden wird und wer nicht. Mit dem Kopf kann ich es nicht, ich muss es mit den Händen tun, mit Jahrzehnten medizinischen Wissens in meinen Händen, einen anderen Kompass gibt es nicht.“ Gerüchte und Nachrichten verbreiten sich inzwischen wie Lauffeuer, Telefonzentralen stehen nicht still, Stimmen voller Panik und Terror, „Allô, allô, hören Sie mich? Kommen Sie schnell!“ Letzte Worte an die Nächsten. Die Smartphones im Bataclan klingeln und vibrieren, SMS und WhatsApp-Nachrichten, immer wieder, Mütter und auch Väter ahnen und wissen dann, dass etwas nicht stimmt. „Wo bist du?“ – „Dies ist die Mailbox von.“

Am 13. November 2015, ganz gleich an welchem Ort, waren wir Pariser oder Pariserin. Wer sich an diesem Freitagabend und am darauffolgenden Wochenende aber in der Stadt aufhielt, z.B. wie ich selbst anlässlich einer Tagung über Villes détruites, erlebte, dass zunächst Unfassbares durchsickerte und dann bestätigt wurde, dass Viertel abgeriegelt und Métro-Linien geschlossen wurden, dass TF1 das Spiel im Stade de France live sendete und erst danach die Berichterstattung von den Attentaten aufnahm, dass Helikopter am Nachthimmel kreisten, Menschen aus der ganzen Welt, sogar aus Kabul, auf überlasteten Kommunikationskanälen anfragten, ob man lebte. Am Samstag dann war alles still, Paris zur Geisterstadt geworden. Die Stunde der Listen kam später. Das alles hat sich eingeprägt, selbst wenn man keines der Opfer persönlich kannte oder jemanden, der einen geliebten Menschen verlor. Die meisten aber kannten jemanden, der jemanden kannte, dem dieses oder jenes widerfahren war. Wer heute, zehn Jahre später, nur Laurent Gaudés bestürzende, erzähltechnisch gewagte chorische „Erzählung“ liest, wird die Stimmen der Lebenden und Toten noch lange hören: „Ich bin tot, Papa. Sie haben mich getötet und wir werden nie mehr miteinander reden.“

 

Laurent Gaudé: Terrasses ou Notre long baiser si longtemps retardé. Arles: Actes Sud 2024, 135S.

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