Einladung zum Träumen des Lebens?

"Minuit dans la ville des songes" (2022) von René Frégni

Veröffentlicht am
26.11.2022
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Buchtitel können Leser bereits vor der Lektüre in den Bann ziehen. Sie machen uns neugierig auf die Geschichte, die sich um die Lettern auf dem Umschlag spinnen. Sie regen unsere Phantasie an, lassen bei uns Erwartungen entstehen. So ging es mir – wieder einmal – mit René Frégnis Roman Minuit dans la ville des songes, der 2022 bei Gallimard erschienen ist. Ein Vagabund, der auf der Suche nach sich selbst, ganz Europa bereist und dabei stets von literarischen Gefährten begleitet wird. Äußere und innere Reise anhand des Ankers der Literatur miteinander verbunden – das klingt vielversprechend!

Dementsprechend nimmt es nicht wunder, dass René Frégni in seinem autofiktionalen Buch allen voran die Geschichte von seiner Liebe zur Literatur erzählt. Er berichtet davon, wie ihn sein Dasein als Deserteur durch Städte in ganz Europa führt und wie es ihm schließlich gelingt, im Verlagshaus Denoël einen Roman zu veröffentlichen – Frégni ist Schriftsteller! Gewissermaßen im Nachgang beantwortet Frégni die im ersten Kapitel von ihm aufgeworfene Frage: „Qu’est-ce qui m’a poussé vers les mots, irréstiblement, que vais-je chercher sous chaque mot, depuis cinquante ans, que je ne trouve pas dans la vie?“ (S.21, dt.: „Was hat mich zu den Worten hin gezogen, unwiderstehlich, was suche ich in jedem Wort, seit fünfzig Jahren, was ich nicht im Leben finde?“)

Prägend für seinen Lebensentwurf ist die Beziehung zu seiner Mutter, nicht nur, weil sie ihm als Kind vorgelesen, sondern vor allem, weil er ihr stets Sorgen bereitet hat: Der Sohn als schwieriger Schüler, als chronischer Schulschwänzer. Nachdem er von der Schule geflogen ist, findet er eine berufliche Perspektive beim französischen Militär. Da er dort nach einer ersten Reise durch England und Spanien zu spät eintrifft, muss er in den Arrest. Er begegnet seinem alten Freund Ange-Marie, ein begeisterter Leser, der sich für den Revolutionär Che Guevara begeistert und davon träumt, ihm in Südamerika im Kampf gegen die Amerikaner beizustehen. Der Soldat Marie-Ange weckt in Frégni das Interesse an der Literatur, eine wegweisende Fügung in seinem Leben, die auf die geschilderte Weise jedoch mehr schlecht als recht überzeugen kann. Ein Junge, der nie gelesen hat, wird im Militärarrest ex machina ohne Training zur Leseratte? Begeistert sich direkt für Camus und andere Autoren? Auch wenn der Alltag trist ist und viel Leerlauf enthält, er also viel Zeit zu lesen hat, so einfach mag sich die Einsicht nicht formen, dass die Worte das Tor in eine andere Welt weisen und dass das Lesen zu einer befreienden Sucht wird… Idealisiert Frégni sein literarisches Erwachen? Eine offenbleibende Frage.

Nachdem Ange-Marie als militärischer Häretiker entlarvt und irgendwo weggeschlossen wird, beschließt der Erzähler zu desertieren. Er flieht erst nach Korsika, schlägt sich dort als DJ durch, pflegt seine täglichen Lesegewohnheiten. Er verschlingt Werke der Weltliteratur. Schließlich aufgeflogen, gelingt es ihm durch seine Kontakte unentdeckt nach Nizza auszureisen, nach Zwischenetappen in Griechenland und Istanbul kehrt er nach Frankreich zurück. In Manosque erlebt der in Abwesenheit zu einer dreijährigen Haftstrafte verurteilte Soldat seine schönste Zeit. Im Café als ,Professor‘ tituliert, fertigt er für Schüler Schulaufsätze im Austausch gegen eine warme Mahlzeit an und unterstützt die Besucher in ihren Verwaltungsschreiben. Natürlich wird er eines Tages erneut entlarvt und muss zu seiner kleinen Schwester fliehen, die inzwischen in Aix studiert. Drei Jahre haben sich die Geschwister nicht gesehen. Es verwundert, dass sie im Text nicht als Person Einzug findet, kein Gespräch, kein Lachen, kein Austausch über gemeinsame Erinnerungen. So lernt der Erzähler Ende der 1960er – uneingeschrieben – das Studentenleben kennen. Er identifiziert sich kurzzeitig mit einer radikalen Linken und entdeckt die Welt der Psychoanalyse. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Pflegehelfer in einer Psychiatrie. Auf Anraten der Krankenschwestern absolviert er die Ausbildung zum Krankenpfleger. Auch in seiner neuen Heimat kommt ihm das Militärgericht auf die Spur, dank eines fantastischen Anwalts wird sein Urteil schließlich in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Nach sechs Jahren und einem hartnäckigen Hautekzem quittiert er seinen Dienst im Krankenhaus und verschwindet. Nach Manosque zurückgekehrt, wird Frégni zum Schriftsteller, dessen Roman Les cheminsnoirs in einem kleinen Verlagshaus veröffentlicht wird.

So stellt sich die Lebensreise von Frégni dar. Er liefert uns Einblicke in ein Leben, das seinen Halt und seinen Antrieb in der Literatur findet. Es sind die bekennenden Sätze, die sich am schönsten lesen, wie: „C’est le miracle des mots, des livres, on arrive dans une ville inconnue, on repart avec des amis pour la vie.“ (S. 246, dt.: „Das ist das Wunder der Worte, der Bücher, wir gelangen in eine unbekannte Stadt und brechen mit Freunden für’s Leben auf.“) Außerdem gelingt es ihm, anschaulich zumachen, dass er im Grunde genommen nur für eine Person schreibt; seine Mutter. Ganz klar, die Mutterliebe ist eine besondere Liebe im menschlichen Herz! Sie ist nach dessen schwieriger Jungend besonders stolz auf ihren Sohn, attestiert ihm ein Valjean zu sein, der wie Hugos Romanheld gegen Widrig- und Ungerechtigkeiten kämpfen musste.

Dieser Vergleich hinkt natürlich. Ein Deserteur auf der Flucht vor der militärischen Gerichtsbarkeit und der geflohene Sträfling Jean Valjean, der in Armut lebend unrechtmäßig hart für einen Brotdiebstahl verurteilt worden ist, haben wohl nicht wirklich etwas gemeinsam. Vor dem Hintergrund der engen Beziehung zur Mutter fragt man sich als Leser übrigens, welche Rolle der Vater für den Erzähler spielt. Im Grunde genommen ist dieser nämlich eine Leerstelle, die kaum Erwähnung findet.

Eine weitere Leerstelle ist der Titel, denn nach der Lektüre kann ich nicht sagen, wieso dieser Roman gerade so benannt worden ist. Zwar werden einige Städte geschildert, in denen der Erzähler gelebt hat. Aber um Mitternacht, der Geisterstunde, passiert nichts. Handelt es sich bei dem Titel also um eine Finte oder auch eine Leerstelle im Text, die vom Leser selbst ausgefüllt werden muss? Habe ich etwas überlesen? Klärt mich gerne mit euren Leseeindrücken auf, wenn ihr den Roman lesen wollt. Persönlich tue ich mich mit einer klaren Leseempfehlung allerdings wirklich schwer.

René Fregni: Minuit dans la ville des songes, Paris: Gallimard 2022, 256 S. Bis jetzt ist noch keine deutsche Übersetzung erhältlich.

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