„In der Hinsicht war Bourdieu, wenn Sie so wollen, ein Revolutionär.“

Die Soziologin Beate Krais über ihr ganz persönliches Verhältnis zu Pierre Bourdieu

Veröffentlicht am
26.6.23

Lea Sauer

RPTU in Landau

Lars Henk

RPTU in Landau

Die Soziologin Beate Krais war eine der ersten, die die soziologischen Theorien Pierre Bourdieus ab den 1970er in ihre eigenen Forschungsarbeiten integrierte. Insbesondere mit ihre Studien zu Bildungschancen und zur Geschlechterforschung sind geprägt von den Arbeiten des französischen Soziologen. In einem persönlichen Gespräch verriet sie uns, wie sie in den 1970er Jahren von der französischen Soziologie beeinflusst wurde und warum Bourdieu auch heute noch aktuell ist.

Als Soziologin haben Sie zu den Klassenstrukturen in der spätmodernen Gesellschaft gearbeitet. Wie hat sich das Interesse an dem Klassenthema in der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt?

Als ich etwa Mitte 20 war, das war Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, wurde man in der westdeutschen Soziologie ausgelacht, wenn man über Klassen gesprochen hat. Zu dieser Zeit hat man in der BRD gedacht, dass es so etwas wie soziale Klassen gar nicht mehr gibt. Dass soziale Unterschiede nach wie vor bestanden, hat man zwar schon noch wahrgenommen, aber sie waren in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs kein Problem.

Das wurde ja eindrücklich im Bild des Fahrstuhleffekts vermittelt, der besagt, dass es für alle Bevölkerungskreise nach oben hing, oder?

Genau. Auch die Arbeiter in der Industrie haben damals mehr verdient. Ich bin in einer oberschwäbischen Kleinstadt groß geworden, an der man durchaus exemplarisch die westdeutsche Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg veranschaulichen kann. Biberach hatte unmittelbar vor Ausbruch des Krieges 10 000 Einwohner. Mitte der 1950er Jahre waren es dann schon 20 000. In meiner Heimatstadt siedelten sich viele moderne neue Industrien an, wovon die Region und ihre Bewohner allgemein profitiert haben. Mit der Wende 1990 wurden die sozialen Unterschiede schließlich wieder viel stärker wahrgenommen, ohne dass man soziologisch darüber gesprochen hat. Heute sind die sozialen Ungleichheiten wieder zu einem Problem geworden, sie sind wieder Gegenstand der soziologischen Forschung.

Das war also die Situation der Soziologie in Deutschland. Wie sah es in Frankreich aus?

Nicht nur die alte Bundesrepublik ist in den 1950er und 1960er Jahren wirtschaftlich aufgeblüht, sondern auch Frankreich. Trotz des steigenden Wohlstands hat Pierre Bourdieu die Themen der sozialen Ungleichheiten, der sozialen Unterschiede und der Klassen zu dieser Zeit wieder auf das Tapet gebracht, weil er sie als wichtiges Thema für die modernen Gesellschaften erkannt hat. Er hat damals nicht nur auf die ökonomischen Unterschiede im Einkommen geschaut, wie es üblich war. Bourdieu hat gezeigt, dass Klassenunterschiede nicht bloß in Kategorien im Kopf des Forschers und in sozialwissenschaftlichen Statistiken bestehen, sondern im wirklichen Leben als Unterscheidungsprinzipien zu finden sind. Sie haben konkrete Auswirkungen auf das Leben. Er hat verschiedene Lebensweisen, Lebensstile entdeckt. In der Hinsicht war Bourdieu, wenn Sie so wollen, ein Revolutionär.

Wie sind Sie zur Soziologie Bourdieus gekommen?

Das ist eine sehr persönliche Geschichte. Als ich Bourdieu kennengelernt habe, habe ich am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin als wissenschaftliche Angestellte gearbeitet. Der Direktor des Instituts, ein Jurist namens Helmut Becker, hat sich damals gut beraten lassen, wen er in den wissenschaftlichen Beirat beruft. Zu den Mitgliedern zählte Pierre Bourdieu, der auch an unser Institut kam. Die Mitarbeitervertretung des Instituts hatte ihn gebeten, einen Vortrag zu halten. Als Bourdieu seinen französischen Vortrag zum Thema der Herrschaft hielt, platzte der Direktor mit einem anderen Mitglied des wissenschaftlichen Beirats in den Raum herein. Er sagte, dass er nicht stören, sondern Herrn Bourdieu nur mit seinem Gast bekannt machen wolle. Der Direktor hat also den Vortrag unterbrochen, er ging auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und stellte die beiden Herren einander vor und verließ dann wieder den Raum. Bourdieu drehte sich zu uns um, lachte und sagte: „Das ist das, was ich Ihnen gerade erklärt habe“. In diesem Moment hatte er mein Herz gewonnen.  

Sie waren also von der Alltagsevidenz seiner Herrschaftssoziologie angetan. Wie ging es anschließend weiter?

Ich habe dann immer mehr von ihm gelesen, auch wenn seine Texte sehr kompliziert waren und ich mich in einer zugegeben etwas arroganten Haltung zuvor geweigert hatte, Texte zu lesen, die nicht verständlich geschrieben waren. In einer kleinen Gruppe haben wir uns daran gemacht, zusammen ein paar Aufsätze von ihm zu übersetzen. Ich habe ihn mindestens einmal in Paris besucht.

Wie war Bourdieu als Mensch?

Ich fand ihn sehr sympathisch. Er war sehr zugänglich für Nachwuchswissenschaftler. Bourdieu hat die jungen Leute gerne empfangen, die etwas von ihm wissen, hören und lesen wollten. Er war sehr aufgeschlossen für Nachwuchsforscher, die Soziologie von Grund auf anders lernen wollten. Ich habe aber auch Leute in Frankreich kennengelernt, die ihn unmöglich und arrogant fanden. Er war sehr kritisch, er hat ordentlich ausgeteilt. Er wusste, dass er für die Soziologie einen neuen Zugang gefunden hatte. Diesen neuen Ansatz hat er eisern verteidigt. Bourdieu hat hart gegen die Angriffe auf ihn gekämpft, erst recht, als er erfolgreich war. Ich denke, dass die vehemente Kritik, die ihm in Frankreich entgegenschlug, auch damit zusammenhing, dass sich seine Konkurrenten über seinen Erfolg geärgert haben.  

Hätte sich Bourdieu über Erben gewünscht, die seinen Ansatz fortsetzen?

Ich denke schon. Bourdieu hat sich sehr gefreut, wenn er gesehen hat, dass man von ihm lernt, seine Arbeitsweise sowie seine Konzepte aufnimmt und weiterführt.

Was haben Sie konkret von Bourdieu gelernt?  

Im Grunde habe ich bei ihm richtig Soziologie gelernt. Ich habe bei ihm eine ganz andere Sichtweise sozialen Handelns kennengelernt, die die Leute im Unterschied zum Strukturalismus als Akteure ernst nimmt. Die Leute haben eigene Vorstellungen von der Welt, Konfigurationen der sozialen Welt, die im Handeln wirksam sind. Diese hängen mit der sozialen Herkunft zusammen, mit der Klassenzugehörigkeit, wenn Sie so wollen. In einer sozialen Welt zu handeln bedeutet nicht einfach Regeln zu befolgen, sondern dass man einen Habitus hat, der einem selber nur in Teilen bewusst ist. Wenn man auf eine bestimmte Art und Weise handelt, dann, weil die Gesellschaft in einem drinsteckt. Wenn Leute so handeln, wie sie es tun, dann weil sie in ihren Weltsichten, Umgangsweisen davon geprägt sind, wie um sie herum gelebt wird. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich bin 1954 ins Gymnasium gekommen, nach vier Jahren Grundschule. Ich hatte eine gute Freundin, Erika, mit der ich als Kind viel gespielt habe. Ihre Mutter war eine arme Kriegerwitwe. Ihre Kinder sind alle mit 14 sofort in die Fabrik gegangen zum Arbeiten. Zu der Mutter habe irgendwann mal gesagt, dass Erika mit mir ins Gymnasium gehen solle, weil ich fand, dass sie genauso sei wie ich. Sie hatte auch gute Schulnoten. Ihre Mutter guckt mich an und sagt: „Weißt Du, das ist nichts für uns arme Leute“. Damit war das Thema erledigt. Das, was in ihren Worten steckte, war Ausdruck einer Lebensweise, für die höhere Schulbildung nicht infrage kam, ohne dass die alleinerziehende Mutter das hätte genau erklären können.

Mit Bourdieu gesprochen ist dieser Selbstausschluss aus dem Bildungssystem ein Akt der symbolischen Gewalt.

In der Tat. Für Erikas Familie war es undenkbar, dass sie auf das Gymnasium geht. Es entsprach nicht ihrem Habitus. Konzeptuell ist es eine große Errungenschaft zeigen zu können, wie unser Handeln mit unserer Klassenzugehörigkeit zusammenhängt.

Sind die Leute damit dazu verurteilt so zu handeln, wie sie es tun? Ist das nicht ein deterministisches Verständnis sozialen Handelns?

Den Determinismus-Vorwurf gegen Bourdieu habe ich nie verstanden. Bourdieu setzt die Leute doch nicht wie einen Zug auf Gleise, sodass sie nur auf einer vorgegebenen Bahnstrecke fahren können. Sie können, um im Bild zu bleiben, durchaus das Gleis wechseln. Das ist aber nicht einfach, weil die Gleisstruktur eine Herrschaftsstruktur ist. Das ist eine Einsicht, die in der Soziologie bis in die 1960er, 1970er Jahre hinein völlig aus dem Blick geraten ist.

Bourdieu hat nicht nur die Klasse als Dimension von (symbolischer) Herrschaft untersucht, sondern auch das Geschlecht. Welche Kategorie ist denn fundamentaler?

Es gibt in der Tat verschiedene Kategorien, die das soziale Leben strukturieren. Herrschaft wird auch über Geschlecht ausgeübt, wirkt auch auf das Geschlecht. Was Bourdieu in La domination mascculine (1998, dt. Die männliche Herrschaft 2005) zum Geschlechterverhältnis geschrieben hat, finde ich wirklich spannend. Als Soziologin kann man gut damit arbeiten. Allerdings halte ich es für schwächer als das, was er über die Klassenstruktur geschrieben hat. In unseren spätmodernen westlichen Gesellschaften ist die Klasse die Kategorie, die stärker Ungleichheiten und Unterdrückung produziert als das Geschlecht. Die Klasse macht die Unterschiede stärker sichtbar als das Geschlecht. Gegenüber einem Mann, der auf dem Bau arbeitet und schuftet, überwiegt die Dominanz der Klassenposition seiner Chefin. Das gilt sicher nicht für alle Gesellschaften in gleichem Maße.

In der Gegenwartsliteratur in Frankreich, aber auch in Deutschland, ist die Soziologie Bourdieus eine wichtige Referenz, um über das Thema Klasse zu schreiben. Uns würde interessieren, ob es umgekehrt auch funktioniert. Kann in der Soziologie mit Literatur gearbeitet werden?  

Ich weiß nicht, was dagegensprechen würde. Literatur ist genauso Material wie die empirische Datensammlung, die Sie von einem Kollegen übernehmen. Der Unterschied besteht nur darin, dass es in einer anderen Form existiert. Nicht in Tabellenform, sondern in Lebensbeschreibungen.

Was denken Sie, warum wird in der Soziologie nicht mit literarischen Quellen gearbeitet?

Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Ein Grund mag die Angst vor der Reaktion der Kollegen sein. Man weiß nicht, ob man dafür gelobt oder zerrissen wird. Persönlich glaube ich, dass da nur die Gedankenlosigkeit in der Soziologie hinter steckt. Die Soziologie ist auch keine revolutionäre Wissenschaft. Wissen Sie, als Soziologe macht man macht das, was die anderen vor einem schon gemacht haben.

Über soziale Aufstiege, über das Thema der sozialen Klasse wird meistens in der ,Ich‘-Perspektive erzählt. Wenn die Literatur soziologisch reflektierte Lebensberichte vorlegt, warum schreibt sie nicht wie die Soziologie in der Dritten Person Singular über Klasse?

Es wäre vielleicht unehrlich und nicht authentisch, wenn man das nicht aus der Ich-Perspektive schreibt.

Die französische Soziologin und Autorin Rose-Marie Lagrave, auch eine Bourdieu-Schülerin, hat uns im Interview erzählt, dass es in der Sozialwissenschaft in Frankreich verpönt ist, ,Ich‘ zu sagen. Wie stehen Sie dazu?

Ich finde es schon wichtig, dass man in der Soziologie ,Ich‘ sagt. Das hat etwas mit der Reflexivität des Forschers zu tun.  In der feministischen Soziologie sieht man es nicht gern, dass Männer Frauen befragen. Wenn Sie als männlicher Wissenschaftler Frauen befragen, dann müssen Sie ihr Verhältnis zu Ihrem Untersuchungsobjekt reflektieren. Sie müssen sich fragen, was es bedeutet, dass Sie als Wissenschaftler beispielsweise Krankenschwestern befragen.

Mit Bourdieu gesprochen: Die Objektivierung objektivieren, nicht wahr?

Genau. Diese ,Ich‘-Reflexivität ist eine Stärke von Bourdieus Soziologie. Als Soziologie sind Sie ist nun einmal Teil des Forschungsprozesses, Sie können sich nicht in Luft auflösen.

Warum schreiben nur die Aufsteiger, wie Bourdieu selbst in Ein soziologischer Selbstversuch (2002) über ihr Leben?

Ich denke, dass das nur ein Aufsteiger beschreiben kann, niemand, der unten bleibt. Er hat gar nicht die Fähigkeiten, ein Buch zu schreiben. Ein Buch können sie nur schreiben, wenn sie ein Stück weit raus sind aus dieser Welt. Ich habe von meiner Freundin erzählt, die ich mitnehmen wollte ins Gymnasium. Sie erinnern sich an die Antwort von Erikas Mutter. Sie hätten kein Buch schreiben können über ihr Leben. Wenn man unten geblieben ist, geht es ganz einfach nicht. Aber wenn man den Aufstieg selbst erlebt hat, dann kann man zurückblicken und ihn aufschreiben.

Das ist ein Unterschied zur Wissenschaft.

Natürlich. Als Soziologe können Sie die Leute befragen, die unten sind. Als Wissenschaftler können Sie daraus ein Buch machen.

Bourdieu ist jetzt 21 Jahre tot. Warum braucht die Gegenwartssoziologie heute noch Bourdieu?

Von Bourdieu kann man viel lernen. Die Gegenwart braucht solide Analysen über die Welt, in der wir leben. Dass das immer nur Ausschnitte sein können, ist klar. Man kann nicht die ganze Welt in einem Aufsatz, in einem Buch oder in einem Forschungsprojekt behandeln. Aber man kann den Blick auf etwas Bestimmtes richten, zum Beispiel die Klassenstruktur. Da kann man sicherlich an Bourdieu anknüpfen, weil er eine neue Perspektive eröffnet hat, die soziale Welt zu sehen. Also ich denke, dass er wirklich eine große Klarheit geschaffen hat für moderne Gesellschaften, was die Klassengesellschaft angeht. Das ist etwas, was auch politisch sehr gerne unter den Teppich gekehrt wird. Die Soziologie und die Soziologen sind nicht dazu da, um irgendwelche Zahlen in Tabellen einzutragen, sondern um zu zeigen, was die festgestellten Unterschiede für das Leben, in dem Leben der Leute, bedeuten. Bourdieu legt den Finger genau in diese Wunde, wenn er sagt, dass diese Unterschiede nicht bloß irgendwo in statistischen Kategorien, sondern im wirklichen Leben sind. Ein Beispiel: Krank werden können alle Menschen, aber wie sie behandelt werden, welche Chancen sie haben, das sind (über-)lebensentscheidende Unterschiede. Um darauf aufmerksam zu machen, braucht die Soziologie Bourdieu.

Eindrücklich ist in diesem Zusammenhang La misère du monde (1993), indem gezeigt wird, welche Auswirkungen der Rückbau des Sozialstaats für die Abgehängten in Frankreich hat.

Absolut. Im Anschluss an die soziologische Forschung können wir beispielsweise die Frage danach stellen, ob es uns wichtig ist, dass wir eine ordentliche Sozialversicherung haben oder ob es uns egal ist.

Frau Krais, wir danken Ihnen dafür, dass Sie sich Zeit für dieses Interview genommen haben.

Nach einer Vertretungsprofessur an der war Krais von 1995 bis 2009 Professorin für Soziologie an der Sie war von 1998 bis 2004 Sprecherin des Schwerpunktprogramms Profession, Organisation, Geschlecht: Zur Reproduktion und Veränderung von Geschlechterverhältnissen in Prozessen sozialen Wandels. 2009 wurde sie in den Ruhestand versetzt. Als Ruheständlerin ist sie seit 2010 Mitglied im Hochschulrat der technischen Universität Dresden.

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