„Wenn man Sartre etwas entthronen kann, ist das sicherlich kein Nachteil“

Ein Gespräch mit Franz Schultheis über Bourdieu, seine Erben und das Wechselverhältnis von Soziologie und Literatur

Veröffentlicht am
7.3.22

Lars Henk: Herr Schultheis, Sie haben sich 1994 bei Pierre Bourdieu in Paris habilitiert und eng mit ihm zusammengearbeitet. In Ihrem 2019 veröffentlichten Buch Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht bezeichnen Sie Bourdieu als „Patron“ eines wissenschaftlichen Kleinunternehmens, als „Sporttrainer“, als „Leiter“ einer Forschungs- bzw. Kunstwerkstatt in der Renaissance und „Dirigenten“ eines Orchesters. Was darf man sich genau darunter vorstellen? Und was zeichnet diese Arbeitsweise aus?

Franz Schultheis: Diese verschiedenen Begriffe, die ich in meinem Buch benutzt habe, haben jeweils eine bestimmte Perspektive auf die Person Bourdieu geworfen. Den Begriff Trainer hat er selbst verwendet für sein Seminar an der EHESS (École des hautes études en sciences sociales). Er sagte, es ginge ihm nicht darum, zu dozieren und den Leuten theoretische Konzepte vorzutragen, sondern er wollte, wie ein Trainer im Sport, seiner Mannschaft Soziologie in Aktion lebendig vorleben. In diesem Seminar, das ich regelmäßig besucht habe, konnte man beobachten, wie Bourdieu mit seinen Studierenden interagierte. Er hat zunächst einfach den Referaten zugehört und zu einem bestimmten Punkt das Wort ergriffen und Hilfestellungen gegeben. Bourdieu hat seine Lehre als ein Laboratorium verstanden, in dem man gemeinsam Soziologie produzierte. Für ihn war es ein lebendiger und kollektiver Prozess, auch wenn das nicht immer perfekt geklappt hat. Natürlich muss man sagen, dass Bourdieu der Patron dieses Prozesses war, oder um ein weiteres Bild aufzugreifen, der Leiter, der Malerfürst einer Kunstwerkstatt in der Renaissance. Wie dort damals die angehenden Künstler, die Novizen, das Malen gemeinsam geübt haben, schließlich gelernt haben, Kunst zu produzieren, so hat man bei Bourdieu gelernt, Soziologie zu betreiben. Dazu muss man auch wissen, dass Bourdieu als Patron dieses kollektiven Unternehmens auch gestandenen Soziologen mitteilte, dass ihre Arbeit (noch) nicht genug gut war. Das ist genauso, wie wenn ein Malerfürst zu einem Maler sagte, dass der Pinselstrich wirklich nicht da sei, wo er hingehöre. Bourdieus Rolle als Dirigent wird vor allem in La misère du monde (dt.: Das Elend der Welt) sichtbar. Es ist ein vielstimmiges Konzert, und diese vielen Stimmen, die wachgerufen wurden durch verschiedene Interviewer, alle doch sehr nahe an Bourdieu dran, mussten dirigiert werden, um aus den einzelnen Stimmen mehr zu machen als die Summe der Teile, um eine eigene Melodie rauszubringen. Es musste also jemand die Oberhand haben und letztendlich darauf achten, welche Elemente zu einer stimmigen Komposition zusammengefügt werden können. Das hat Bourdieu getan.

Gregor Schuhen: Welcher Stellenwert kommt den Pinselstrichen seiner Soziologielehrlinge zu? Wenn man in ein Museum geht, Ausstellungen zu Rembrandt oder Tintoretto besucht, dann findet man nicht mehr Bilder von bestimmten Künstlern, sondern Bilder aus einer bestimmten Werkstatt. Muss man sich das Kollektivunternehmen des Künstlers Bourdieu so vorstellen?

FS: Faktisch ist es so, denn es ist Bourdieus La misère du monde, nicht primär Champagnes, nicht Lenoirs. In der Tat ist das die Krux am kollektiven Intellektuellen. Es ist eine Realutopie oder doch nur eine Utopie, weil zum Schluss die sozialen Strukturen in diesem Kollektiv eben nicht egalitär sind, selbst wenn alle es möchten, vor allem Bourdieu selbst.

LH: Wie kam Ihr erster Kontakt zu Bourdieu zustande? Wie hat sich Ihre Beziehung entwickelt?

FS: Der Zufall wollte es, dass an der Uni Konstanz, wo ich sehr unglücklich war, ein Kolloquium zu Fragen der Familienpolitik stattfand. Ein gewisser Rémi Lenoir wurde eingeladen, weil er ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht hatte. Abends sind wir gemeinsam essen gegangen. Wir haben uns gut verstanden. Dann erzählte ich ihm von meinem Unglück an der Uni Konstanz. Er lud mich nach Paris ein, wo ich schließlich zwei Wochen geblieben bin. Rémi Lenoir hat mich Bourdieu vorgestellt. Mit ihm habe ich über meine Arbeit gesprochen. Bourdieu hat mir geraten, ein Stipendium zu beantragen, das mir nur eine Woche später bewilligt wurde. So konnte ich ein Jahr in Paris forschen. In diesem Jahr war ich noch nicht so dicht an Bourdieu dran. Unser Verhältnis ist insgesamt über 16 Jahre gewachsen. Als die Zeitschrift Liber gegründet wurde, wurde die Beziehung intensiver. Ich habe die deutschsprachige Ausgabe inklusive Übersetzungen mitübernommen. Ab 1996/97 haben wir gemeinsam zwei Anträge für europäische Forschungsprojekte verfasst. Zwischenzeitlich hatte ich auf die Initiative meiner ehemaligen Studierenden hin, die unbedingt gemeinsam weiterarbeiten wollten, den Verein Zentrum für Europäische Gesellschaftsforschung in Konstanz gegründet. Wir waren ein kleiner bunter Verein, so ein Dutzend Leute – gewissermaßen ein Salon des réfusés. Bourdieu hat uns eingespannt in sein eigenes europäisches Forschungsprojekt, wir wurden sogar Leading House für das Forschungsvorhaben mit dem Namen La précarité des jeunes en Europe, womit wir den Prekaritätsbegriff nach Deutschland importiert haben. Das zweite gemeinsame Projekt hieß Les nouvelles formes de la régulation pénale. Da ging es um strafrechtliche Konsequenzen für deviantes Verhalten im Ländervergleich, Loïc Wacquant war auch dabei. Bis tief in die Nacht hinein haben wir Anträge verfasst. Bourdieu hat bis weit nach Mitternacht mitgearbeitet. In letzter Sekunde habe ich den Antrag am nächsten Tag abgeliefert. Im Anschluss wurde unser Verhältnis richtig intensiv, weil wir Raisons d’agir gegründet haben. Der Gründungsakt war eigentlich ein großes Kolloquium in Grenoble, wo Bourdieu vor 1000 Leuten über Prekarität geredet hat. Es kam hinzu, dass ich seine Bücher dann auch zum Teil auf Deutsch herausbrachte, wie Les héritiers (dt. Die Erben), La misère du monde, Le bal des célibataires (dt. Der Junggesellenball) und viele andere mehr. Bourdieu traute mir in diesen Forschungsprojekten eine wichtige Rolle zu, weil er immer skeptischer wurde, was die französischen Intellektuellen anbelangte. In den Ferien auf Korsika 1999 habe ich sein Algerienbuch Algérie ’60 übersetzt. Ich habe ihm vorgeschlagen, ein Interview dazu zu machen, was er auch akzeptiert hat. In dem Zusammenhang sprach er von den Bildern, die er in Algerien aufgenommen hatte und von denen ich noch nichts wusste. Die hat er mir in einem Koffer ausgehändigt. Auf meinen Vorschlag, daraus ein Projekt zu machen, reagierte er zurückhaltender, denn, wie er sagte, „in unserem Centre hatten wir den Kodex, nicht mit den Künsten zu kokettieren.“ Rückblickend, so hat er mir in dem Interview später gesagt, bedaure er sehr, „dass wir uns das alles auferlegt hätten, dass wir uns verboten hätten, das Visuelle zu benutzen.“ Schließlich konnte ich ihn doch davon überzeugen, diese Fotos zu zeigen. Die daraus entstandene Ausstellung, an ein Buch war noch nicht gedacht, sollte in Neuchâtel im Ethnographischen Museum, das er schätzte, stattfinden. Doch er starb im Januar 2002. Er hatte mir noch das Büchlein Ein soziologischer Selbstversuch anvertraut, das zuerst in Deutschland erscheinen sollte, auch um die Franzosen zu ärgern. Das habe ich mit Suhrkamp besprochen. Zu dieser Zeit waren wir mittlerweile doch sehr eng befreundet, wir waren nicht nur gute Kollegen. Diese Freundschaft ist in 16 Jahren allmählich gewachsen.

GS: Ihr Nachwort zum Selbstversuch ist sehr aufschlussreich. Der Name Eribon taucht dort auf eine eher unschöne Weise auf...

FS: Das müssen Sie sich so vorstellen. Wir stehen am Grab von Bourdieu. Dort wird ein Textauszug aus dem Manuskript vorgelesen. Eribon stand neben mir und war begeistert. Er meinte, man müsse das unbedingt bringen. Eribon, der stets behauptet hatte, er hätte diesen Text durch und durch gekannt, kannte diese vorgetragene Passage aber nicht. Dann hat er sich diesen Text angeeignet. Am nächsten Tag erschien diese Passage im Nouvel Observateur, daneben aber ein vom Herausgeber verantworteter skandalöser Text. Dort ist u.a. vom Sozialneid Bourdieus die Rede. Das war natürlich eine Konnotierung, die völlig deplatziert war. Da hat die Bourdieu-Familie natürlich scharf reagiert. Auch Leute wie Loïc Wacquant, die alle vorher mit Eribon befreundet waren, waren mehr als sauer. Man wollte ihn sogar verklagen. Dazu ist es dann nicht gekommen. Ich habe versucht zu beschwichtigen. Auch wenn er das schon am Grab angedeutet hatte, dass er das bringen wollte, konnte er jedoch nichts von der Stoßrichtung des Ganzen wissen, die durch die Hasstirade des Chefredakteurs gegeben wurde. Es war nicht seine Schuld, aber das hat man ihm bis heute nicht verziehen. Das ist eben die Geschichte mit Eribon. Er versucht auch immer wieder zu sagen, er habe Bourdieu sehr beeinflusst bei diesem Selbstversuch. Sagen wir es einmal so: Bourdieu kann sich dagegen nicht mehr wehren. Wer wen beeinflusst hat, da habe ich andere Vorstellungen. Die Entstehung des Selbstversuchs muss man natürlich in einen größeren Kontext setzen. Bourdieu plante bereits seine letzte Vorlesung am Collège de France. Er beabsichtigte, die letzte Sitzung nicht selbst zu gestalten, sondern jüngere Leute aus seinem Umfeld ihre Forschungsprojekte vorstellen zu lassen. Etwa zur selben Zeit hatte Bourdieu einen Beitrag anlässlich der Verleihung der Huxley Medal in London 2000 geschrieben, einen Text mit autobiographischen Elementen. Und dann habe ich ihm gesagt: „Hören Sie, ich finde es viel passender, wenn Sie eine Soziologie Bourdieus skizzieren. Alle Elemente sind ja da.“ Darauf hat er mir geschrieben, dass er mir sehr dankbar sei, dass ich ihn auf diese Fährte gebracht hätte. Der Selbstversuch ist eng mit diesem Vortrag verknüpft und es ist daher kaum ein Zufall, dass er mir diesen Text anvertraute.

GS: Der Text ist natürlich für uns auch so wichtig, weil wir uns ja sehr viel mit Autosoziobiografien beschäftigen, sowohl mit den neueren von Édouard Louis als auch den älteren von Annie Ernaux. Bourdieus Text ist eine eigene, eine neue Form soziologischen Erzählens, in der sein Lebensbericht im engeren Sinne gerade nicht den größten Platz einnimmt, denn über sein eigenes Leben spricht er erst im letzten Drittel.

FS: Es ist eine Anti-Autobiographie, er schreibt eine soziologische Biographie des Pierre Bourdieu. Pierre schreibt Bourdieu. Er unternimmt eine soziologische Objektivierung. Wie sah das Feld aus, in das Bourdieu eintrat? Wie musste er sich von Sartre und von Lévi-Strauss absetzen, um seinen eigenen Weg zu finden? Es sind diese Fragen, die Bourdieu beantwortet. Es ist gerade keine Erzählung des eigenen privaten Lebens. Von diesem Typus Biographie weicht er radikal ab. Deshalb ist es ein Mythos, dass sich der alte Bourdieu im Krankenhaus hingesetzt hat, und sich seines Lebens mit Weltschmerz erinnert. Zu diesem Zeitpunkt war der Selbstversuch schon fertig. Jetzt kann dieser Mythos erzählt werden, weil der Erzählte sich nicht wehren kann.

GS: Auch gegen die aktuellen Angriffe auf seine Person kann sich Bourdieu nicht mehr wehren. In Frankreich ist dieses Jahr ein Buch erschienen, La Guerre des idées von Eugénie Bastié, die Bourdieu tatsächlich als totalitären, arroganten Soziologen beschimpft hat.

FS: Es hat, das ist bekannt, verschiedene Fälle gegeben, wo sich frühere Mitglieder des Bourdieu-Kreises von ihm abgesetzt haben. Eine seiner Doktorandinnen, deren Namen ich vergessen habe, die über Sozialarbeit geschrieben hat, deren Dissertation Bourdieu erheblich verbessert hat, in die er viel Zeit investiert hat, hat nachher ein Buch geschrieben, das einen Totalverriss seiner Person darstellt. Danach kam Nathalie Heinich, mittlerweile die Grande Dame der französischen Kunstsoziologie. Sie hat ein Buch mit dem Titel Pourquoi Bourdieu? geschrieben. Darin schreibt sie auch, wie sie ihn kennengelernt hat, dass sie von ihm wirklich fasziniert gewesen sei. Jedoch sei der Zauber Bourdieus sehr schnell verflogen. Ich hatte eine Podiumsdiskussion mit ihr in Rom, unter anderem zur Kunstsoziologie, und da habe ich versucht, das richtig zu stellen, davon war sie nicht begeistert. Aber gut.

LH: Bourdieu hat mit seinem Manet-Buch einen wichtigen Beitrag zur Kunstsoziologie geleistet. Er verfolgt darin die symbolische Revolution, die Manet durchgesetzt habe. Neben Habitus, Kapital und Feld scheint das Symbolische sehr wichtig zu sein, in Form des symbolischen Kapitals, symbolischer Gewalt, symbolischer Herrschaft. Was bedeutet der Begriff genau? In welcher Beziehung steht das Symbolische mit Bourdieus übrigen Kernkonzepten?

FS: Sicherlich sind Habitus, Kapital und Feld die zentralen Konzepte von Bourdieu. Sie sind äquivalent, auch hinsichtlich des Verständnisses von symbolischer Herrschaft, Gewalt etc. Bei Bourdieu tut sich rund um das Symbolische ein breites semantisches Feld auf. Seine frühesten Arbeiten in Algerien drehen sich um die Ehre, die er später als symbolisches Kapital bezeichnet. Ehre ist die Zuschreibung anderer an eine Person oder ist Charisma. Charisma besteht nicht in einer Wesenheit der charismatischen Person, sondern in den Augen derer, die auf diese Person schauen und ihr diese Qualität zuschreiben. Insofern geht es bei symbolischer Herrschaft, symbolischem Kapital, symbolischer Gewalt immer um Zuschreibungen. Diejenigen, die dies tun, besetzen unterschiedliche Positionen in einer Gesellschaft. Damit geht es auch immer um die Frage der Legitimität dieser Zuschreibung, um die soziale Ordnung, um soziale Strukturen. Die frühesten Aufsätze Bourdieus drehen sich um Ehre und das kabylische Haus. In seinem Briefwechsel mit Sayad schreibt er ihm, dass er seinen Artikel zur Ehre seinem Vater gegeben habe, der ihm sagte, dass es mit der Ehre genauso im Béarn, seiner Heimatregion, bestellt sei. Er arbeitete an einer Anthropologie des mediterranen Raums. In Algerien findet er eine wie unter dem Brennglas verdichtete Gesellschaft wieder, die insgesamt für den mediterranen Raum repräsentativ ist. In diesem Laboratorium der Kabylei ist die Totalität dieser Kultur noch greifbarer als in seiner Heimat, dem Béarn. Als er anfängt zur mediterranen Ehren-Kultur zu forschen, benutzt er noch den Begriff der honneur, denn den Kapitalbegriff hat er später begonnen zu entwickeln. Das Interessante daran ist gerade diese Import-Export-Operation. Er exportiert den Kapital-Begriff aus einer modernen Gesellschaft nach Algerien, in eine traditionelle Gesellschaft, und er reimportiert das symbolische Kapital nach Frankreich. Für sein Theoriegebäude ist diese Dialektik zwischen der Moderne und der Vormoderne überhaupt charakteristisch. In der Hinsicht ist er ganz wie Durkheim und Mauss, die sagen, dass sich archaische Klassifikationen auch in modernen Gesellschaften untersuchen lassen, wie dem Paris des 20. Jahrhunderts. Die kabylische Gesellschaft hat für Bourdieu eine ausschlaggebende Rolle gespielt, weil er eine Gesellschaft fand, in der dieses Kapital der Ehre wichtiger war als jede andere Kapitalsorte. Er hat die Währung der Kabylen gefunden. Das führte ihn dazu, zu entdecken, dass es bei uns auch nicht viel anders ist. Auf den Punkt gebracht: Der ganze Bourdieu, das sagte er mir wörtlich, steckt in den ersten Algerien-Untersuchungen schon drin.

GS: So wie ich es verstanden habe, ist das symbolische Kapital nicht auf einer Ebene mit den anderen Kapitalsorten, sondern befindet sich eine Ebene darüber.

FS: Das kann man so sehen. Das setzt die Frage danach voraus, wie die Kapitalsorten zueinanderstehen. Bei dem symbolischen Kapital haben wir es mit der gesellschaftlichen Repräsentation des Status, der Bedeutung einer Person, ja quasi ihrer Aura zu tun. Das symbolische Kapital ist die Ausstrahlung, sozusagen die soziale Existenz in den Augen anderer, die soziale Wahrnehmung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals. Es ist die symbolische Aufladung dieser Kapitalsorten. Das ökonomische Kapital ist gewissermaßen die Hardware. Fächer- und paradigmenübergreifend kann man sich da schnell einig werden. Das Sozialkapital hat er relativ spät in Auseinandersetzung mit dem Adel und dem Patronat entwickelt. Da hat er herausgefunden, wie matrimoniale Strategien zusammenwirken und wie man Sozialkapital schöpft aus dem vorhandenen Netzwerk. Kulturelles Kapital ist in seiner Ausformung hinreichend bekannt. Es war von ihm durchaus eine Neuerung, dass er in Les héritiers und anderen Schriften der 1960er Jahre aufzeigte, dass das eigentliche Problem der Reproduktion von Bildungsungleichheit nicht in der Verteilung ökonomischen Kapitals allein liegt, sondern dass man unbedingt diese kulturelle Komponente mit aufnehmen muss. Und dadurch hat er natürlich auch die ganze Ungleichheitsforschung der 1960er Jahren revolutioniert. Eine Sache ist wenig bekannt, nämlich dass im Statistischen Amt Frankreichs (INSEE), das bis heute sehr soziologisch geblieben ist, Leute beschäftigt waren, die bei Bourdieu in die Schule gingen. Sie waren mit Bourdieu in Algerien unterwegs und haben Travail et travailleurs en Algérie zusammen gemacht. Die Verbindung des werdenden Bourdieus mit der Statistik war also von Anfang an da.

LH: Da Sie eben von Bourdieus Vater sprachen, stellt sich mir die Frage, wie wichtig er für Bourdieus Forschung war. Bei seinen Interviews mit den Junggesellen im Béarn war sein Vater ja so etwas wie der Informant.

FS: Ich würde fast sagen, die wichtigere Figur war die Mutter. Bourdieu sagte auch, sie sei sehr soziologisch denkend gewesen. Sie hätte Dinge durchschaut und auch gesellschaftliche Beziehungen gut analysiert. Natürlich ist auch der Vater wichtig, weil er eine doppelte soziale Rolle hatte. Einerseits war er im bäuerlichen Milieu beheimatet und andererseits wurde er dann kleiner Beamter. Er legte somit einen sozialen Aufstieg hin. Er wurde Beamter, der gesellschaftliche Traum der kleinen Leute in Frankreich zu der Zeit. Es ist richtig, dass der Vater ihm zu der Generation der befragten Bauern in der Studie von 1961/63 die Tür geöffnet und ihm auch als ethnographischer Informant gedient hat. Wie groß die Bedeutung seiner Familie, seines Herkunftsmilieu genau war, sagte er nicht. Ohne sich selbst zu nennen, erzählt er wohl von sich selbst, wenn er sagt, dass man ja in diesem Milieu auch die Kinder schon in den Kaufladen schicken würde, mit genau abgezähltem Geld. Also wenn die Dose 49 Cent kostet, dann gibt man dem Kind 49 Cent. Solche Beispiele bringt er gern und die stammen schlichtweg aus seiner kindlichen Erfahrung. Bourdieus großes reflexives Potential, was er nun wirklich hatte, stammt aus seiner Flugbahn aus dem bäuerlichen Milieu in der hintersten Provinz. Als Bildungsaufsteiger, der er nun einmal war, wurde er, der Pensionär im Lycée, der vom Staat finanziert als Stipendiat schließlich nach Paris geschickt wird, mit den Bürgersöhnen, den Sprösslingen eines ganz anderen Milieus, konfrontiert. Die Bürgersöhne in Paris vermitteln ihm noch einmal eine ganz andere Distinktion. Bourdieu litt unter dieser enormen Diskrepanz zwischen seinem Erfolg und der immer wieder sichtbar werdenden Erfahrung der sozialen Schwerkraft. Das kennzeichnet ihn, und daraus hat er dann soziologisch geschöpft. Und er sagt ja offen, dass er sich seiner Herkunft schämte. Bis ins späte Alter, sagt er, schämt er sich des Dialekts, den man immer noch aus dem gewissen Singsang seines Französischs heraushörte. Er konnte sich während seiner Zeit in Algerien mit den Kabylen in der Übergangsgesellschaft identifizieren, die einen gebrochenen Habitus aufwiesen. Und diesen „habitus clivé“ hatte er selbst, weil er aus seinem Habitat, seinem heimatlichen Milieu, herausgerissen wurde. Das ist nie ganz verheilt. Aber die Soziologie hat ihm quasi als ein Instrument gedient, die Formen des Leidens an der „clivage“ aufzuarbeiten.

GS: Ich habe auch den Eindruck, dass der „habitus clivé“ bei den Autoren und Autorinnen, mit denen wir uns beschäftigen, der Anschlusspunkt ist. Diese doppelt besetzte Scham, die Herkunftsfamilie verraten zu haben und im Zielmilieu nie richtig angekommen zu sein, ist bei Ernaux, Éribon und Louis zu beobachten.  

FS: Da bietet Bourdieu ein klares konzeptuelles Instrumentarium. Hier unterscheiden sich übrigens Soziologen und Literaten. Der Soziologe bringt es konzeptuell auf den Punkt, gegenüber dem Literaten ist er aber gleichzeitig häufig schwächer in der phänomenologischen Beschreibung dessen, was da passiert. Als Wissenschaftler legt er sich selber durch diese konzeptuelle Schärfe Grenzen hinsichtlich der Beschreibung auf. Eribon ist ja selbst auch Soziologe, das muss man natürlich berücksichtigen. Das, was Ernaux macht, ist Soziologie in literarischer Form. Da hat Frankreich eine starke Tradition, die Bourdieu natürlich gut kannte. Flaubert und Zola betreiben Soziologie. Balzac nennt sich selbst docteur es sciences sociales. In Balzacs Comédie Humaine kann man den Versuch sehen, die ganze Gesellschaft abzubilden, mit all ihren sozialen Charakteren, die Wirkung des Sozialen bis in die Habitus nachzuzeichnen, beispielsweise anhand der Detailbeschreibung des Ganges verschiedener Milieus. Davon kann die Soziologie sich ein Stück abschneiden und viel lernen.

GS: Und ich habe mich ja gefragt, ob nicht Bourdieu auf wissenschaftliche Weise einen Gesellschaftsentwurf vorlegt, wie es Balzac literarisch gemacht hat.

FS: La distinction lässt sich so lesen. Darin wird jedes Milieu sozialstatistisch, nüchtern, mit Zahlen und so weiter abgebildet. Aber er hat dann La misère du monde als sozusagen phänomenologische, qualitative Fortsetzung des Ganzen genommen. Er konnte hier nicht alle Positionen abbilden. Aber es war durchaus der Versuch, ein Gegenstück zu La distinction vorzulegen. Was er in La misère du monde tut, hat er in Algerien in Form von qualitativen Interviews und ihren Auslegungen schon gemacht. In dieser Hinsicht ist es interessant, dass ich das Spinoza-Zitat aus der Präambel von La misère du monde – nicht verlachen, nicht verurteilen, sondern verstehen – schon im ersten Manuskript zu Le déracinement gefunden habe. In der Veröffentlichung taucht es dann nicht mehr auf.

LH: Dies nimmt unsere Frage nach dem Stellenwert der Literatur für Bourdieu vorweg. Wenn man Bourdieu liest, gerade auch Die männliche Herrschaft, dann findet man sehr viele literarische Verweise, etwa auf Virginia Woolf. Liest man seinen Aufsatz Illusion biographique, ist Robbe-Grillet programmatisch wichtig. Ungeachtet dessen scheint die wichtigste Rolle für Bourdieu von Flaubert eingenommen zu werden. Warum Flaubert?

FS: Er hat sich in Les règles de l’art (dt.: Die Regeln der Kunst) ganz zentral auf die Éducation sentimentale von Flaubert gestützt und ein ganzes Kapitel dazu geschrieben. Das ist die Basis, von der ausgehend er auf die Kunst schaut und damit sozusagen Sartres Idiot de la famille „an den Karren“ gefahren ist. Sartre hat er damit herausgefordert, er wollte zeigen, dass die Soziologen das besser können als die Philosophen. Wenn man Sartre etwas entthronen kann, ist das sicherlich kein Nachteil. Übrigens hat Bourdieu, anders als vielleicht zu erwarten ist, in einem Interview, das ich mit ihm für die Süddeutsche Zeitung gemacht habe, Sartre jedoch sehr gut wegkommen lassen. Bourdieu sah sein eigenes Werk analog zu dem von Flaubert und Manet als das eines Häretikers. Deshalb fand er sich in ihnen wieder, deswegen identifizierte er sich mit ihnen. Also Manet-Bourdieu wäre ein schönes Paar gewesen. Bourdieu und Flaubert ebenfalls. Wichtiger als diese Wahl- und Geistesverwandtschaft ist es jedoch, die Form eines Anschlusses zu finden, die Eröffnung eines neuen Feldes soziologischen Schreibens mit einer gleichzeitig literarischen Legitimität. Wenn man Bourdieus Ausführungen zu Flaubert in Les règles de l’art liest, dann begegnet einem über die Soziologie hinaus, die nie besonders beliebt war, ein kulturelles Erbe, womit Bourdieu die Soziologie dann auch mittels dieser Wahlverwandtschaft wieder profilieren und legitimieren konnte. Solche Anleihen, solche Verweise machen sich gut in soziologischen Werken. Das war die Konstellation, warum er sich ausgerechnet mit Flaubert auseinandergesetzt hat.

LH: Mir scheint es, dass unter den vielen Schriftstellern und Autorinnen, auf die Bourdieu verweist, Émile Zola keine besonders große Rolle spielt. Das verwundert, weil sich durchaus bestimmte programmatisch-biographische Parallelen zwischen Zola und Bourdieu finden. Beide hatten ihren „J’accuse“-Moment, sind also Intellektuelle und intervenieren zugunsten der sozial Deklassierten, beide sind Ethnographen bzw. Ethnosoziologen ihrer Gesellschaft.

FS: Zola fotografierte auch! Man kann sagen, dass Zola schon zu realistisch ist, er ist zu dicht dran und er hat damit nicht dieses literarische Flair eines Balzacs und eines Flauberts. Zola kann man direkt im Film umsetzen. Die Verweise auf andere Autoren, wie Flaubert und Proust, sind „hochkultivierter“.

GS: Den Habitus des engagierten Intellektuellen hat Bourdieu ab den 1990er Jahren immer mehr gepflegt. Die Dreyfus-Affäre einhundert Jahre zuvor war ja gewissermaßen die Geburtsstunde des Intellektuellen.

FS: Das stimmt, aber ich glaube, Bourdieu hat nie auf Zola direkt Bezug genommen. Bourdieu hatte Sartre vor der Nase. Er hat versucht, eher eine Soziologie des Intellektuellen als eine intellektuelle Soziologie zu entwickeln. Er wollte die Rolle des Intellektuellen objektivieren, weil er mit den unschönen Varianten des Intellektuellen Pariser Herkunft konfrontiert war. Gegen diesen Typus des totalen Intellektuellen wollte er mit seiner Idee vom kollektiven Intellektuellen etwas entgegensetzen.

GS: Es ist mein Eindruck, um noch einmal mal auf die – teils selbst ernannten – Erben Bourdieus zu sprechen zu kommen, dass Eribon, Louis und Lagasnerie sich als natürliche Nachfolger des kollektiven Intellektuellen bourdieuscher Schule in der Öffentlichkeit inszenieren. Sie treten ja ganz häufig zu dritt auf und gehen auf Tournee.

FS: In der Tat war Eribon nach Bourdieu derjenige, der das aufgegriffen hat, aber auf eine sehr selbstverliebte Art und Weise. Als Bourdieus Erbe kann sich letztendlich Jeder und Jede definieren, egal wie illegitim das Ansinnen gegenüber Bourdieus Soziologie ist, denn er kann sich nicht mehr dagegen wehren. Bourdieu würde das nicht gefallen, was gegenwärtig passiert. Der soziologische Selbstversuch ist das Gegenteil von einer Selbstinszenierung. Für das Erbe ist diese Art und Weise des Bezugs auf Bourdieu nicht unbedingt gut. Eribon ist ein kluger Kopf und ich finde auch Retour à Reims ein wichtiges Buch. Aber die Art und Weise, wie er das „Kapital Bourdieu“ einsetzt, gefällt mir nicht. Und Édouard Louis ist noch einmal kleiner als Eribon. Qui a tué mon père ist banal.

GS: Gegenwärtig begegnen einem ja in öffentlichen Debatten oft die Namen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa. Als ich die Gesellschaft der Singularitäten gelesen habe, hatte ich, als soziologischer Laie, den Eindruck, dass dort viel auftaucht, was Bourdieu eigentlich schon vorgedacht hat. Ist das so, oder habe ich zu sehr meine eine Bourdieu-Brille auf?

FS: In der Tat steckt dort viel Bourdieu drin. Was jetzt gesagt wird, über diese neuen Spaltungen, mit den Modernisierungsgewinnern und -verlierern, findet man schon in La distinction in dem Kapitel über die neuen Mittelschichten mit ihrem spezifischen Lebensstil und Habitus. Dort findet man auch die Formen der Selbststilisierung. Reckwitz macht diese soziokulturelle Milieuerscheinungen und damit sich selbst zum Thema, denn er gehört dieser Gruppe an. Es gibt gerade eine Debatte, die Michael Hartmann losgetreten hat, nach der es ja eine sehr verengte Sicht auf die Gesellschaft sei, wenn dort die wirklichen Kapitalisten überhaupt nicht auftauchen. Im aktuellen soziologischen Mainstream geht um die Kulturkapitalisten. Ich kann noch so sehr sagen, dass die wahre Avantgarde der aktuellen Gesellschaft wir Intellektuelle, wir Kulturträger, eine creative class seien und die anderen seien die Abgehängten. Aber das verkennt doch, dass wir immer noch die Superreichen haben. Wir haben Unternehmerfamilien und Shareholder. Ja, wir haben eine Spaltung der Gesellschaft entlang der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Was Rosa angeht, der hat, glaube ich, mit seiner Theorie der Beschleunigung wirklich originellere Beiträge geleistet. Er ist ein sehr feinsinniger Beobachter des Gesellschaftlichen, den ich mehr schätze. Ehrlicherweise muss ich auch sagen, dass ich in der deutschen Debatte ziemlich abgehängt bin, weil ich doch eher in der französischen Soziologie beheimatet bin.

GS: Haben Sie auch den Eindruck, dass die Soziologie mittlerweile im öffentlichen Diskurs so eine Art Deutungshoheit bekommen hat in Deutschland, also eine der neuen Leitwissenschaften geworden ist? In den politischen Talkshows – zumindest bis Corona – sitzen überall die Soziologen oder werden zitiert. Auch Scholz hat in seinem Wahlkampf ganz viel Reckwitz gelesen.

FS: Sie wissen, Rosa war Berater von Merkel. Wir leben in einer Gesellschaft mit disruptiven Wandlungserscheinungen. Da ist Deutung gefragt. Auf die Theologen greift man nicht mehr zurück. Und die Soziologen sind eben große Weltdeuter.

LH: Sie sagten eben, dass Sie sich mehr in Frankreich zu Hause fühlen. Wo sind also die Berührungspunkte und wo sind die Divergenzen zwischen dem praxeologischen Ansatz von Bourdieu und den Soziologien von Robert Castel und Luc Boltanski, die in den letzten Jahren sehr stark rezipiert worden sind und die auch mit Bourdieu gearbeitet haben?

FS: Beide, da haben Sie Recht, wurden schon an den frühesten Forschungen Bourdieus beteiligt. Bourdieu und Castel waren befreundet. Wie ich das beschrieben habe, kam es zu Brüchen, wobei Castel Bourdieu das nie nachgetragen hat. Erst kurz vor Bourdieus Tod konnte ich die beiden noch einmal auf einer Tagung in Brüssel zusammenbringen. Wir haben die ganze Nacht durchdiskutiert, sie haben sich prima verstanden. Der Bruch mit Boltanski wurde nie wieder gekittet. Mir wurde nie völlig klar, woran die Beziehung letztendlich kaputt gegangen ist. Für Bourdieu lag das unter anderem auch am Einfluss von Laurent Thévenot. Dieser wurde von Boltanski auch in die Actes mit hereingebracht. Das war zu der Zeit, als Boltanskis Buch Les cadres (1982) fertig wurde, das noch sehr bourdieusianisch war. Mit Thévenot begann er, einen Ultra-Konstruktivismus zu entwickeln. Boltanski ist immer noch sehr bourdieusianisch in dem, was er macht. Ich habe sein Buch Der neue Geist des Kapitalismus herausgebracht, was bestimmte Bourdieusianer gar nicht gern gesehen haben. Es ist ein sehr wichtiges Buch, weil Boltanski einen neuen Blick auf die Metamorphosen des Kapitalismus geworfen hat. Die Theorie des Selbstunternehmertums wurde von ihm sehr klar illustriert. Die letzten Bücher, wie zum Beispiel Enrichissement, sind nicht schlecht, aber nicht mehr so bedeutend. Castel habe ich auch veröffentlicht. Castel war mir immer einer der Liebsten, ein sehr bescheidener Typ. Er hat einen wichtigen Beitrag geleistet, war zudem auch gesellschaftspolitisch engagiert. Ich habe sie beide geschätzt.

GS: Die Beiträge zur Prekaritätsforschung haben uns sehr beeindruckt.

LH: Auch für Bourdieu spielt die Prekarität eine große Rolle, als Dominanzmodus des Neoliberalismus, der politische Kollektive zerstört. Welche sozioanalytische Potentiale bietet nun das Konzept der Prekarität, um gegenwärtige soziale Lagen zu untersuchen, gerade auch wenn man Reckwitz’ Das Ende der Illusionen vor Augen hat, der von einer neuen prekären Klasse spricht?

FS: Das ist eine komplexe Frage. Der Begriff Prekarität setzt sich in den 90er Jahren durch. Ich habe ihn aus dem Umfeld Bourdieus entstehen und auch bei Castel emergieren gesehen. In seinem Vortrag in Grenoble, dem Gründungsakt von Raisons d’agir, trägt Bourdieu die Diagnose vor, dass die Prekarität überall sei. Bisher gesicherte Statuspositionen bröckeln. Die stolze Arbeiterklasse, durch Arbeitsverträge abgesichert, ist plötzlich mit atypischen Arbeitsverhältnissen konfrontiert. Das Triumvirat Blair, Jospin und Schröder löst den Sozialkompromiss des Kapitalismus auf. Das heißt, aus einem zuvor gegebenen relativ stabilen Zustand beginnt man die vorhandenen Garantien für Ansprüche auf Arbeitslosengeld durch Umstellung auf Hartz IV und so weiter wegzunehmen. Prekarität wird vor allem als Prekarisierung, als Prozess verstanden. Prekarisierung ist also ein Verlustgefühl, das Gefühl, dass einem der Teppich unter den Füßen weggezogen wird. Bourdieu analysiert diese Doppelgestalt der Prekarität. Einerseits geht es um materielle Ressourcen, die zu Knappheit auch in der Fähigkeit führen, die eigene Zukunft zu planen, zum Wegbrechen von Autonomie führen und somit nach Castel auch den Besitz an sich selbst einschränken. Andererseits werden die symbolischen Ressourcen unterminiert. Es resultiert ein Niedergang, sowohl materiell als auch mit Blick auf die Anerkennung. Der Niedergang der Bauernschaft war ja von Bourdieu von Anfang an so thematisiert. Der Bauer ist nicht mehr das, was er einmal war. Er ist verbäuerlicht durch den Blick der urbanen Welt, er ist plump bzw. wird durch den fremden Blick dazu gemacht. Das beschreibt Bourdieu schon in den frühen Schriften. Diese Verlusterfahrung teilt der Industriearbeiter. Er hatte einen Status und einen Berufsstolz, solange er kollektiv organisiert war und auch eine bestimmte Lebensform pflegte, also die Arbeiterkneipe, der Taubenzuchtverein und der Fußballclub. Und dann begann die Erosion, der absolute Niedergang.

LH: Kann man, wie Reckwitz es tut, von einer prekären Klasse sprechen?

FS: Die Rede von der Entstehung einer prekären Klasse würde ich so nicht unterschreiben, denn es ist kein homogenes Phänomen. Ich habe eine Studie durchgeführt zum Thema Kreativität als Beruf. Wir haben die creative class, die Grafik- und Schmuckdesigner usw. interviewt. Sie sind zu einem guten Teil prekär, sie müssen dazu verdienen. Sie sagen, dass sie nicht in die Ferien fahren können, sie wüssten nicht, wie sie eine Familie gründen könnten. Aber in ihrem anerkannten Status und in ihrem Selbstverständnis sind sie von dem üblichen Hartz-IV-Empfänger, den Langzeitarbeitslosen, die ich auch erforscht habe, weit entfernt. Bis auf die ökonomische Knappheit gibt es keine Gemeinsamkeiten. Die kreative Klasse kann die ökonomische Knappheit kleiden in Bohème. Diese Ressource steht dem Langzeitarbeitslosen nicht zur Verfügung. Von einer prekären Klasse zu sprechen, widerspricht deshalb allem soziologischen Menschenverstand.

LH: Welche Potenziale hat denn die bourdieusche Soziologie für die Analyse der Gegenwarts- und der Zukunftsgesellschaft?

FS: Bourdieu hat eine komplexe und komplette Theorie der Gesellschaft entwickelt. Er hat eine Theorie, die den Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt, nicht zuletzt dank seines Habitus-Konzepts. Er hat gebrochen mit sozialtheoretischem Objektivismus und Subjektivismus. Er hat uns die wirklich grundlegenden theoretischen Perspektiven auf Gesellschaft angeboten, mit denen man bestens weiterarbeiten kann. Aber das wird zu wenig gemacht. Wir haben versucht, seine Kunstsoziologie auf die Art Basel 2012-2014 anzuwenden. Das hat hervorragend funktioniert. Die heutige Sozialstruktur wiederum, ob man noch Klassengesellschaft sagen will oder nicht, und die Frage, wohin sie driftet, lässt sich bestens auf der Basis der verschiedenen Kapitalbegriffe analysieren.

GS: Eine persönliche Frage: Wie sieht man das als Soziologe und dann noch als Soziologe, der eng mit Bourdieu zusammengearbeitet hat, wenn Literaturwissenschaftler wie wir mit seinen Konzepten arbeiten?

FS: Da freut man sich. Das Erbe Bourdieus ist so breit, dass viele Einzeldisziplinen von Bourdieu profitieren können, an ihn anknüpfen können. Die verschiedenen Wissenschaften rezipieren ihn natürlich in unterschiedlicher Intensität. Gerade in den USA hat Bourdieu in den letzten Jahren noch einmal unter dem Stichwort der Public Sociology erheblich an notoriété gewonnen. Seine Konzepte wie Habitus, Kapital und Feld sind zudem in den Common Sense diffundiert. Um auf die Literatur zurückzukommen: Joseph Jurt ist z.B. ein hervorragender Wissenschaftler, der nah an Bourdieu dran war. In den Literaturwissenschaften haben Germanisten zum literarischen Feld in Hamburg gearbeitet. Die Historiker und die Ethnologen arbeiten auch mit Bourdieu. Das ist höchst willkommen, das ist fruchtbar. Bourdieu hat gewissermaßen als Grenzgänger zur Literatur gearbeitet. Seine Ideen könnten die Literaturwissenschaftler noch einmal akzentuierter und nuancierter ausarbeiten.

GS: Ich finde es auch deshalb extrem fruchtbar, mit Soziologen ins Gespräch zu kommen. Was mir zuletzt aufgefallen ist, ist, dass Soziologen heutzutage anscheinend doch weniger Problem damit haben, ab und zu „ich“ zu sagen. Ist das eine richtige Beobachtung?

FS: Das Autobiographische hat eine höhere Legitimität angenommen, vielleicht auch gerade wegen Eribon.

LH: Über den Privatmenschen Pierre Bourdieu erfährt man relativ wenig. Er war verheiratet, er hatte Kinder. Wie war Bourdieu also als Privatmensch, als Ehemann, als Vater? Wie viel Platz hatte das Familienleben für Bourdieu, der sehr viel unterwegs war?

FS: Er war tatsächlich viel unterwegs, gerade in den Jahren, in denen wir für Raisons d’agir gearbeitet haben. Er rief jeden Abend seine Frau an, Marie-Christine, er war sehr liebevoll. Die drei Söhne waren da schon aus dem Haus, empty nest gewissermaßen. Seine Frau hatte als Soziologin begonnen, hatte auch einen Beitrag mit Bourdieu zusammen verfasst und hat dann ihre akademische Karriere aufgegeben zugunsten der klassischen Frauentätigkeit, domination masculine pure. Bourdieu hatte ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Söhnen, er war ein sehr fürsorglicher Vater. Drei Söhne, alle Grandes Écoles-Abgänger, er ist also das perfekte Beispiel für Reproduktion. Seine Söhne wiederum sind ganz verschieden. Emmanuel ist jetzt Cineast, hat aber als Philosoph begonnen. Jérôme hat das Erbe des Vaters übernommen, denn die Zeitschrift Actes ist ja im Privatbesitz. Er verwaltet sie und auch Raisons d’agir, das macht er alles sehr selbstlos. Er ist selbst Ökonom an der ENS. Anstatt seine eigenen Publikationen voranzutreiben, kümmert er sich um das väterliche Erbe. Er ist der, der eigentlich am Erbe leidet. Bourdieu zitierte immer den Marx’schen Satz „Der Erbe wird vom Erbe geerbt, vom Patrimonium, ob er will oder nicht“. Er muss es übernehmen. Und privat? Wie war er? So wie ich ihn selbst erlebt habe, war er ein sehr witziger und humorvoller Mensch, sehr ironisch, spitz, diese Bescheidenheit, zudem schlief er Tage vor wichtigen Vorträgen nicht. Dann war er wiederum auch hart im Urteil über andere. Das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn das Fremdurteil war häufig ebenfalls hart ihm gegenüber, er sei ein arroganter Typ und unnahbar. Das lag daran, dass er sich oft den Gepflogenheiten des gemeinsamen Essens mit den Arrivierten entzogen hat. Das Fremdurteil lag außerdem einfach daran, dass seine Sekretärin von ihm den Auftrag hatte, ihm den Rücken frei zu halten. Den Leuten, die anriefen, antwortete sie dann, dass es keinen Gesprächstermin gäbe. Sie wusste auch nicht, wer da gerade anrief. Und wenn dann jemand, der sich selbst die Legitimität zusprach, doch unbedingt vorgelassen zu werden, gesagt bekommt, es gäbe keinen Platz in Bourdieus Seminar, dann waren das als harte Demütigungen wahrgenommene Rückmeldungen. Das Fremdbild ist also stark durch solche nicht intendierten, auch nicht von Bourdieu persönlich verantworteten Abschirmungen bestimmt.

LH: Dieses Ironische, Spitzbübische kommt auch gut im Film Sociologie comme sport de combat durch, wenn er mit seinen Sekretärinnen spricht.

FS: Und das war wirklich so. Also Marine Christine Rivière und Rosine Cristin haben ihm wirklich alles zugearbeitet. Er konnte sich zu 100% auf sie verlassen. Und das ist natürlich fantastisch. Sie gingen miteinander locker und ironisch um.

GS: Und er muss ja auch permanent geschrieben haben, wenn man die Publikationsliste betrachtet.

FS: Natürlich, aber er hatte eine Schreibe, das sehe ich jetzt auch an den Manuskripten aus Algerien, die nur ganz selten korrigiert werden musste. Bourdieu schrieb astrein. Das sagten auch alle anderen in seinem Umkreis. Wenn er ein Manuskript ablieferte, dann fast ohne Korrekturen. Das war alles schon fix und fertig gedacht. Ich habe immer gesagt, er hätte eine generative Transformationsgrammatik entwickelt, er könnte aus seiner Grundlagentheorie heraus über alles schreiben.

GS: Das Bild gefällt mir. Herr Schultheis, woran arbeiten Sie gerade? Sind Sie gegenwärtig mit Bourdieu beschäftigt?

FS: Ich bin seit Januar 2019 emeritiert, wurde vorab schon eingeladen, als Senior Professor an die Zeppelin Universität zu kommen, mit der Bezeichnung Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft. Ich mache momentan einen Kurs zum Kunstfeld und ein Seminar zum Passagenwerk von Walter Benjamin. Nächstes Semester steht ein kulturgeschichtlicher Kurs zum Benehmen, zu den Codes of Conduct an, sowie ein Kurs zu Arbeit und Gesellschaft. Dort behandeln wir u.a. Bourdieu und Castel. Ich habe jetzt eine 50-Prozent-Stelle und das ist gut. Ich habe gern Kontakt zu den Studierenden. Ich betreue Abschluss- und Doktorarbeiten, kurzum führe ich weiterhin den Job des Professors aus. Daneben habe ich ein DFG-Projekt zur visuellen Soziologie Bourdieus. Daran habe ich viel Spaß. Solange es Spaß macht, möchte ich noch weiterarbeiten, mindestens bis ich 70 bin.

LH: Herr Schultheis, haben Sie vielen Dank für das Gespräch und diese wertvollen Einblicke in das Leben und Arbeiten von Pierre Bourdieu.

Franz Schultheis ist seit 2019 Seniorprofessor für Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft in Friedrichshafen. Ein jahrelange Freundschaft und Zusammenarbeit verband ihn mit Pierre Bourdieu, dessen Werke er auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag herausgibt. Gegenwärtig arbeitet er zu den visuellen Formen soziologischer Erkenntnis bei Bourdieu. Die Forschungserträge erscheinen in fünf Bänden im transcript-Verlag.

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