Auf dem Weg zum Proustianer?

von Aydin Günay

Veröffentlicht am
6.12.22

Studierende

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Marcel Proust…einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller. So viel weiß ich schon einmal. Aber sollte ich als Romanistikstudent nicht mehr über diesen klassischen Autor und seine Werke wissen? Es ist Ende September und ich scrolle das Seminarangebot für das Wintersemester 2021/22 herunter, bis ich den Titel des Seminars Proust lesen sehe. „Wow“, denke ich mir, „das ist vielleicht die letzte Gelegenheit, noch kurz vor Abschluss meines Studiums mein Wissen im Rahmen des Seminars zu erweitern und damit kein schlechtes Gewissen haben zu müssen“. Aber ist das auch der Anfang einer Sympathie zu diesem Schriftsteller und eine Chance, die französische Literatur von einer anderen Seite kennenzulernen? Und werde ich mich nach der Teilnahme am Seminar auch Proustianer nennen können? So viel sei vorweggenommen: Marcel Prousts erster Band Du côté de chez Swann seines Romans A la recherche du temps perdu hatte unter den französischen Werken, die ich bis jetzt gelesen habe, den durchaus größten Einfluss auf mich, wie ich im Folgenden erläutern möchte:

Zum einen hat er mir gelehrt, dass Lesen auch eine Sache der Geduld ist. Da der Roman, wie unser Dozent gleich zu Beginn des Seminars erwähnt hatte, nicht als „Gute-Nacht-Lektüre“ funktioniert, erfordert er während des Lesens ein hohes Maß an Konzentration und die volle Aufmerksamkeit. Dies hatte zur Folge, dass ich mich von meiner Gewohnheit, im Wohnzimmer zu lesen, verabschieden musste, in der die Geräuschkulisse stets lauter ist als in meinem Zimmer. So nahm ich mir täglich ein paar Minuten Zeit und begab mich für die Lektüre dorthin.

Die ersten Leseerfahrungen waren stark beeinflusst von der Tatsache, dass Proust einen einzigartigen Schreibstil aufweist, an den man sich erst gewöhnen muss. Sei es Prousts lange und komplexe Syntax oder seine detaillierten Beschreibungen von Personen und verschiedenen Orten – all das ist charakteristisch für Prousts Schreibstil. Das beste Beispiel hierfür ist die Anfangsszene, eingeleitet durch den berühmten Satz: „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“, der trotz seiner Kürze dennoch Fragen aufwirft und geprägt ist durch die ungenauen Zeitangaben, die im Verlauf des Romans an mehreren Stellen erneut auftauchen und die einen Gegenpol zum klassischen Realismus darstellen. Eine andere Textstelle stellt der berüchtigte „Satz der Zimmer“ dar, in dem Proust über mehrere Seiten beschreibt, in welchen Räumen er bereits geschlafen hat.

Diese Textstellen wirkten aufgrund ihrer Länge anfangs etwas ungewöhnlich, und ich hatte den Eindruck, dass der Roman schwer zu lesen sei, aber ich muss dazu sagen, dass man sich mit der Zeit (spätestens nach den Kindheitserinnerungen des Ich-Erzählers) daran gewöhnt und das Lesen des Romans einfacher gelingt und dass ich viel mehr Freude an den Beschreibungen des Ich-Erzählers und seinen Empfindungen hatte, die zugleich etwas Beruhigendes hatten.

Aber Prousts Detailtreue bezieht sich nicht für auf die Beschreibungen an sich, sondern auch auf die intertextuellen Bezüge, die mich am meisten an dem Roman fasziniert haben, da man gewissen Textstellen entnehmen kann, dass jedes noch so winzige Detail, das einem im ersten Augenblick vielleicht bedeutungslos und irrelevant erscheint, in Wirklichkeit eine wichtige Funktion haben kann. So stehen beispielweise die Anfangsbuchstaben des Wortes „Petite Madeleine“ für die Initialen des Autors Marcel Proust. Die Liste dieser Details, mit denen Proust etwas ausdrücken und seinen persönlichen „Touch“ zum Ausdruck möchte, könnte auf diese Weise fortgeführt werden. Darüber hinaus lässt sich auch sagen, dass das Lesen von Prousts Roman mir vor Augen geführt hat, dass Feinheiten von großer Bedeutung sein können und dass das Lesen einen stärkeren Fokus auf diese Feinheiten und Details erfordert. So können die verschiedenen Bände des Romans lehren, eine neue Sichtweise bezüglich des Lesens zu entwickeln und dabei eine Strategie zu erarbeiten, die helfen kann, dieses Verständnis an anderen literarischen Werken anzuwenden.

Was mich ebenfalls fasziniert hat, sind nicht nur die intertextuellen Bezüge, die vom Roman ausgehen, sondern auch die oftmals auftauchenden Bezüge anderer Medien zur Handlung des Romans. So war ich fasziniert und überrascht zugleich, als ich im Rahmen des Seminars erfuhr, dass eine bekannte Szene des Disney-Films Ratatouille einen Bezug zur Madeleine-Szene aufweist, in der der Ich-Erzähler durch das Eintunken einer Madeleine in eine Tasse Tee und durch deren Geschmack sich in seine Kindheit zurückversetzt fühlt und alte Erinnerungen geweckt werden: die sogenannten mémoires involontaires, deren Wesen mir erst durch die Madeleine-Episode bewusst wurde. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich selbst öfter solche unbewussten Erinnerungen hatte, meist ausgelöst durch den Geruch eines bestimmten Gewürzes oder eines Parfums, wodurch ich mich ebenfalls in meine frühe Kindheit versetzt gefühlt habe. So konnte ich, während ich mit Interesse die Madeleine-Episode las, die Gefühle des Ich-Erzählers nachempfinden und war fasziniert von der sprachlichen Gestaltung dieser Szene.

Zurückblickend auf meine Leseerfahrungen kann ich sagen, dass die Recherche auf jeden Fall mein Interesse geweckt hat. Obwohl es sich bei dem Roman nicht um eine klassische Autobiographie handelt, weist er dennoch autobiographische Züge auf, indem Proust mittels verschiedener Charaktere, wie beispielweise Swann oder auch Tante Léonie, eine Verbindung zu seinem eigenen Leben herstellt. So ist auch mit dem Roman zusammen mein Interesse für den Autor geweckt worden und ich bin ich gespannt, wie viel der eigenen Identität Marcel Proust in den weiteren Bänden seines Romans offenbart.

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