Auf der Suche nach der verlorenen Lebenszeit

von Lucienne Siegel

Veröffentlicht am
6.12.22

Studierende

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September 2021. Ich nehme mir vor, dieses Semester ein wenig früher mit der Erstellung meines Stundenplans zu beginnen als normalerweise. Im Vorlesungsverzeichnis fällt mir ein Literaturseminar zum Thema „Proust lesen“ bei Herrn Schuhen ins Auge. Marcel Proust, der Name dieses Romanautors kommt mir bekannt vor, jedoch habe ich in diesem Fall – ganz im Gegensatz zu anderen französischen Autoren wie Émile Zola, Honoré Balzac oder Jean-Paul Sartre – keinen Romantitel und auch kein literarisches Thema, das ich mit dem Autor in Verbindung bringe, vor Augen. Da die ersten Informationen im Seminarkommentar jedoch bereits mein Interesse und meine Neugier geweckt haben, beschließe ich, das Seminar zu belegen und mir die entsprechende Literatur, den ersten Band der siebenteiligen Romanreihe À la recherche du temps perdu zu besorgen, um mich schon mal ein wenig in den Roman einlesen zu können. Ich beginne also relativ zeitnah damit, teils wissbegierig und teils neugierig darauf, was mich wohl erwarten wird, die ersten Seiten des Bandes durchzulesen. Fasziniert und zugleich auch sehr überrascht von den extrem langen, stark verschachtelten und sehr ausgeschmückten Sätzen des Autors führe ich mir Seite für Seite das „drame du coucher“ zu Gemüte. Immer wieder muss ich von vorne beginnen, fange mit der Zeit an mir zu markieren, wo ein Satz endet und der nächste anfängt, da Marcel Proust so viele Details in seinen Sätzen unterbringt, wie ich selbst, wenn ich ruhelos grübelnd im Bett liege und nicht einschlafen kann.


Es ist der Mittwoch der zweiten Vorlesungswoche. Ich komme in die Rote Kaserne, wo das Seminar stattfindet, da ich in der ersten Woche noch nicht in Landau war, und bin dementsprechend neugierig auf das, was mich im Seminar erwarten wird. Wir sprechen anfangs sehr viel über die Hintergründe und die ersten Motive des Romans und mir fällt sehr schnell auf, dass und wie mir Details, die ich zwar bereits bemerkt hatte, denen ich allerdings bis dahin keine größere Beachtung gewidmet hatte, beginnen klarer zu werden und mir in einem anderen Licht erscheinen. Ich fange an zu begreifen, warum gerade die ausschweifenden Beschreibungen von Gedanken und Sinneseindrücken, die mir die ersten Male eher wie unwichtige und beiläufige Kleinigkeiten vorkamen, so ausführlich von Marcel beschrieben werden. Gerade das Ende dieses Teils, die Madeleine-Episode, in der aus einem Stück in Tee getunkten Gebäck sich die ganze Erinnerung des Ich-Erzählers entfaltet, hat mich sehr beeindruckt und nachdenklich zurückgelassen.

Auch der vorangegangene Teil der Ouvertüre, in dem sehr ausführlich die teilweise schon erotisch anmutende Beziehung zwischen dem jungen Marcel und seiner Mutter behandelt wird, erscheint mir nun in einem anderen Licht. So beginne ich erneut damit, mir diesen Teil des Romans vorzunehmen und schaffe es dieses Mal auch, ihn vollständig durchzulesen – das sogar mit ansteigender Vorfreude auf die nächste Seminarsitzung, da ich vor allem darauf gespannt bin, welche Details sich noch im Werk von Proust verstecken, die ich selbst nicht oder noch nicht entdeckt hatte. Gerade der auf die Ouvertüre folgende Part, in dem die Entdeckung der Sexualität eine entscheidende Rolle spielt, fasziniert mich auf eine gewisse Art und Weise, da ich gerade hier merke, wie viele autobiografische Details sich beispielsweise in der Beschreibung des Weißdorns in der Kirche oder in der Beschreibung der verstörenden Szene zwischen Mademoiselle Vinteuil und ihrer Freundin verstecken. Sie wirken so beiläufig und gleichzeitig so kalkuliert in die Erzählung eingebettet, als würden sie die ganze Zeit nur darauf warten gefunden zu werden.

Es ist Anfang Januar, die Weihnachtspause ist gerade vorbei und mein Stresslevel geht immer weiter hoch, da ich eine Klausur für Anfang Februar vorzubereiten habe und es mir dementsprechend schwerer fällt mich zum Lesen des Romans zu motivieren. Dennoch besuche ich weiterhin, immer noch fasziniert von Prousts Werk das Seminar, auch wenn dieses mittlerweile online stattfindet. Auch wenn ich die Schilderung der Liebesgeschichte zwischen Swann und Odette als sehr anstrengend empfinde, bemerke ich meine weiterhin ansteigende Motivation, den Roman zu Ende zu lesen, sobald ich meine Klausur in der ersten Februarwoche hinter mir habe. Somit bin auch ich aktuell, ähnlich wie Marcel Proust auf der Suche nach der verlorenen Zeit, allerdings nicht nach meinen verlorenen Erinnerungen, sondern nach meiner fehlenden Lebenszeit für die Lektüre des Romans.

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