Auslandssemester

Heute blicke ich auf dieses Mädchen und wünsche mir, sie hätte zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, was sie noch in den sechs Monaten erleben würde.

Veröffentlicht am
20.12.23

Studierende

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Ende August 2021. Ich sehe sie sich auf den Weg machen in ihr neues Zuhause. Ein neues Land, eine neue Stadt, eine neue Wohnung, all das weit weg von zuhause, der vertrauten Umgebung, der Familie und ihrer Freunde. Ich bin mir sicher, sie wusste noch nicht, was sie erwarten würde, wenn sie in M. ankommt. Der Stadt in Frankreich, in der sie nun ein halbes Jahr leben und studieren würde. Voller Vorfreude hatte sie ihren Koffer gepackt und nach mehrmaligem Vergewissern, wirklich alles eingepackt zu haben, sich auf den Weg gemacht.

Auch wenn all das Erlebte bereits zwei Jahre her ist, fallen mir noch viele Details ein:

Sie ahnte nicht, wie warm es sein würde, wenn sie ankommt. Sie trug eine weite Jeans und ein rosa T-Shirt. Nicht besonders stylisch, dafür bequem, und deutlich zu warm für die Temperaturen Südfrankreichs. Nachdem sie endlich den Eingang des Wohnheims gefunden hatte, konnte sie ihr Zimmer beziehen. Sie fragte sich kurz nach dem Betreten, ob das wirklich als Zimmer bezeichnet werden könne, oder nicht doch eher als Wandschrank. 9,8 m2. Sechs Monate musste sie darin leben. Der Raum war spärlich eingerichtet: ein einfaches Bett, ein Schreibtisch und ein Stuhl. Gott sei Dank noch ein Bad in Miniaturformat. Die Küche am anderen Ende des Ganges war mit der gesamten Etage zu teilen. Das hatte sie nicht erwartet. Die erste Person, die sie traf, war ihre Zimmernachbarin. Eine Studentin aus Italien, einem Dorf irgendwo am Arsch der Welt, die nur gebrochen Französisch und Englisch sprach und auf sie damals seltsam wirkte. Heimweh machte sich in ihr breit, der Tatsache geschuldet, dass sie sich in ihrem neuen Zuhause absolut nicht wohl fühlte. Seit dem Beginn der Planungen für ihren Auslandsaufenthalt hatte sie versucht, einen Platz in einer WG zu finden. Dies hatte sich allerdings alles andere als einfach gestaltet. Die meisten WGs verlangten Vor-Ort-Besichtigungen. Für sie unmöglich, mal schnell durch halb Europa zu reisen. Die restlichen WGs suchten jemanden, der länger als nur sechs Monate blieb oder waren für sie unbezahlbar. Ihre Eltern taten zwar alles, um sie zu unterstützen, aber solche Kosten konnten nicht gedeckt werden. Weder von den Eltern noch von ihr und ihrem Lohn, den sie mühsam in der Hausaufgabenbetreuung erarbeitete. So blieb nur noch das Zimmer im Wohnheim, in dem es zum Glück noch freie Plätze gab.

Da war sie nun, in ihrem neuen Zuhause, dem kahlen, tristen, kleinen Raum, umgeben von Gepäck und bunten Kleidungsstücken, die noch nicht weggeräumt waren. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als erst einmal Ordnung zu schaffen. Ich sehe sie vor mir, wie sie ihre Sommerklamotten ordentlich in den blauen Schrank räumt, die Uniunterlagen auf dem Schreibtisch sortiert und das Bad, das an eine Flugzeugtoilette erinnert, die sie schon häufiger bei einem ihrer Flüge in den Urlaub mit ihrer Familie gesehen hatte, einrichtet. Auch danach ergriff sie immer wieder ein beklommenes Gefühl. Selbst jetzt, wo das Zimmer mit persönlichen Gegenständen bestückt war, wirkte es fremd, erzählte keine persönliche Geschichte.

Dieses beklommene Gefühl hielt noch weitere Tage an. Das junge Mädchen telefonierte jeden Abend mit der Familie und ihren Freunden, denen sie während der ersten Zeit noch nicht viel berichten konnte, da die Vorlesungen noch nicht begonnen hatten und auch noch nicht alle Studierenden in M angekommen waren. Ihr Tag bestand aus Spaziergängen durch die Stadt, die sie nach drei Tagen schon sehr gut kannte, und dem Besuch verschiedener Bäckereien und Crêperien. Sie lernte dort einige neue Leckereien kennen, die sie aus ihrer Heimat noch nicht kannte.

Heute blicke ich auf dieses Mädchen und wünsche mir, sie hätte zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, was sie noch in den sechs Monaten erleben würde. Dass sie gute Freunde finden würde, sich ihr Zimmer noch mit Erinnerungen und Leben füllen würde, ein Zuhause für sie werden würde, und dass sie eine unvergessliche Zeit erleben würde. Eine Zeit, in der sie außerdem ihre Sprachkenntnisse verbessern würde, wie sie es sich gewünscht hatte. Es stellte sich heraus, dass ihre Eltern recht behalten sollten, als sie ihr damals mehrmals versicherten: Aller Anfang ist schwer und Man wächst mit seinen Aufgaben. Das lässt sich wohl auf viele Bereiche des Lebens übertragen. Am Ende bin ich bin immer noch sehr überrascht, welche junge Frau aus dem Mädchen von damals geworden ist.


Sophie

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