Scheitern

Ist das hier das, was von mir erwartet wird, ist das richtig? Ist das der Stil von Annie Ernaux oder doch eher eine holprige Imitation von dem, was man bei Virginia Woolf als stream of consciousness bezeichnet?

Veröffentlicht am
20.12.23

Studierende

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Juni 2023. Es ist warm, viel zu warm. Es hat seit Tagen nicht geregnet oder zumindest nicht so, wie man es als richtig regnen bezeichnen würde. Wiesen sind vertrocknet, T-Shirts, die unter den Achseln und auf dem Rücken festkleben sowie Gesichter und andere Stellen der Haut, die durch den Film aus Schweiß und/oder Feuchtigkeitscreme, der sich bildet, glänzen. Die Körperbehaarung wirkt klamm und dunkler als sonst durch die leichte Feuchtigkeit. Die Temperatur bzw. das Klima ist das, was man als schwül bezeichnet, ein Wort, von dessen Herkunft ich keinerlei Ahnung habe, nichts weiß, auch nicht davon, ob es ein standardsprachliches Wort oder vielleicht nur regionale Umgangssprache ist. Es ist ein Wetter, das dazu anregt, viel über das Wetter zu sprechen und zu seufzen, um darin die Bestätigung anderer zu suchen für das Gefühl, dass der eigene Körper nicht für das Wetter gemacht ist, dem Wetter nicht standhält oder dass das Wetter sonderbar ist, eine nicht normale Erscheinung und das Wetter selbst das Problem ist.

Ich sitze vor meinem Laptop, ein Dell-Computer, von dem ich denke, dass es ein gutes Modell ist, obwohl der Akku schwach und unzuverlässig ist. Ich weiß wie viel Gigahertz der Prozessor hat, 2,8 – ich habe es mal nachgeschaut (und gerade nochmal, um mich zu vergewissern) – was für mich aber eher die Vokabel einer Fremdsprache ist als etwas, hinter dem sich für mich wirklich Bedeutung und Inhalt verbirgt.

Ich schreibe einen Essay für ein Seminar. Der Essay soll zu dem Thema Les choses de ma vie im Stil der Autorin Annie Ernaux verfasst werden und ein Objekt beschreiben, einen Gegenstand, ein Foto, ein Lied. Ist auch eine Erinnerung oder eine Szene okay? Sollte der Text über die Vergangenheit gehen, da auch die Autorin über die Vergangenheit schreibt? Der Dozent sagte, wir haben alle Freiheiten. Eine erleichternde und zugleich belastende Aussage. Belastend, da sie womöglich zu viel Freiheiten bietet und ein Rahmen fehlt, der Sicherheit gibt und das Anfangen vereinfachen kann. Stattdessen kommt es auf mich an, auf das, was ich mir vorstelle, wofür ich mich entscheide. Eine Sache, die mir ab und zu Probleme bereitet. In meinem Kopf bildet sich die Assoziation zu Sartre und dem Satz, dass der Mensch zur Freiheit verdammt ist, und ich überlege den Satz einzubauen, da doch auch Annie Ernaux immer wieder Zitate wichtiger Literaten einbaut, aber es fühlt sich pathetisch an. Erleichternd ist die Aussage, da keine Restriktionen bestehen und kein enges Korsett, verbunden mit einer Erwartungshaltung – oder einer vorgestellten, auf den Dozenten projizierten Erwartungshaltung, die nie ausgedrückt wurde, aber sich dennoch real und nicht intrinsisch anfühlt, obwohl sie selbst kreiert wurde aus Ansprüchen an die eigene Arbeit, Erfahrungen mit dem Dozenten und anderen Dozenten im Unikontext –, eine Erwartungshaltung, die Angst vorm Scheitern erzeugt. Angst zu Scheitern vor dem Dozenten und vor sich selbst, etwas Unzureichendes abzugeben, unzureichend zu sein. Man ist darauf getrimmt, Vorstellungen und Erwartungen zu erfüllen und keine Fehler zu machen. Eine Art Krankheit, die sich vordergründig in der Schulzeit zu entwickeln scheint, in der Beziehung zum Lehrer, den Eltern und seinen Mitschülern, und die Kreativität bremst, hemmt oder ihre Entwicklung ganz verhindert. Statt zu versuchen, wirklich etwas zu erschaffen, etwas zu leisten oder unvoreingenommen auszuprobieren, auch mittelmäßig zu sein, will man vor allem eines: nichts falsch machen. Etwas falsch zu machen bedeutet, unzureichend zu sein und birgt die Gefahr, bloßgestellt zu werden. Und die (eingebildete) Gewissheit, dass man bloßgestellt werden könnte, stellt bereits fast eine Bloßstellung in sich selbst dar. Ein lähmendes Gefühl, das sich auch körperlich zeigen kann. Ich fühle mich uninspiriert, ideenlos, habe das Gefühl, dass das, was ich in das Word-Dokument tippe, eh nur scheiße ist. Aber ich tippe weiter.

Ist das hier das, was von mir erwartet wird, ist das richtig? Ist das der Stil von Annie Ernaux oder doch eher eine holprige Imitation von dem, was man bei Virginia Woolf als stream of consciousness bezeichnet? Fehlen detaillierte Beobachtungen, möglichst eindringliche, (quasi-)soziologische Beobachtungen und Beschreibungen meines Milieus, die verallgemeinerbar sind und nachvollziehbar für Menschen, die in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, ähnliche Dinge erlebt haben? Fehlen Identifikations- und Projektionsflächen für Leser? Muss ich über meine Familie schreiben, über Momente meiner Vergangenheit? Und müssen es Momente sein, für die ich mich schäme?

Bei dem Versuch ein Thema oder einen konkreten Gegenstand aus meinem Leben zu finden, hatte ich verschiedene Ideen. Das Bügelbrett, das ich mir mal im Angebot bei Aldi gekauft habe und das damit verknüpfte Gefühl: ich bin jetzt wohl erwachsen, weil sowas machen nur Erwachsene; Zigaretten oder Alkohol, irgendwas problematisches, oder die Creedence Clear Water Revival-CDs bei meiner Oma, die ich oft nach der Schule gehört habe. Aber nichts schien mir hinreichend, nicht unzureichend. Und es erzeugte in mir das Gefühl, mich ausliefern zu müssen mit privaten Details, persönlichen Dingen und Empfindungen, die ich nicht bewusst verborgen halten, aber auch nicht zwangsläufig teilen möchte.

Am Ende dieses Prozesses steht dieser Text. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll und ob ich ihn nochmal lesen werde, bevor ich ihn einreiche – wahrscheinlich schon. Es fühlt sich richtig an, vielleicht ist es das auch. Vielleicht habe ich zu viel geschwafelt, definitiv habe ich zu viel geschrieben. Ich habe das Gefühl, ich sollte mich schon einmal entschuldigen.


Jonas

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