Ein Wiedersehen mit alten Bekannten

Ein persönlicher Streifzug durch die Ausstellung „Mythos Paris: Fotografie 1860–1960“ in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums

Veröffentlicht am
28.2.2024

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Wenn die gesamte Landauer Innenstadt mit Plakaten zugepflastert ist, auf denen der „Mythos Paris“ beschworen wird, lässt das natürlich jedes Romanisten-Herz höherschlagen – selbst dann, wenn sich nach näherem Hinschauen herausstellt, dass die beworbene Ausstellung nicht in der Metropole der Südpfalz gastiert (wo auch?), sondern im gut 100 km entfernten Saarbrücken. Die gute Nachricht: Sofern die Deutsche Bahn nicht gerade streikt oder aus welchen Gründen auch immer den Anschlusszug in Neustadt verunmöglicht, dauert es gerade mal anderthalb Stunden, um zum Ort des Geschehens zu gelangen. Eines gleich vorweg: anderthalb Stunden, die sich lohnen, und das aus mehreren Gründen. Zunächst bin ich selten zuvorkommender begrüßt worden als in der Modernen Galerie des Saarlandmuseums. Der überaus freundliche Herr am Ticketschalter nahm sich sehr viel Zeit, um alle vier (!) Ausstellungen zu erklären, die man sich für schnäppchenhafte zehn Euro anschauen konnte. Wer das Musée d’Orsay oder den Louvre kennt, weiß solche Freundlichkeit umso mehr zu schätzen. Leider war der Ausstellungskatalog für die Paris-Ausstellung bereits ausverkauft, aber im einschlägigen Online-Buchhandel sind noch einige Exemplare verfügbar.

Im Eingangsbereich wird zunächst der konkrete Anlass der Ausstellung erläutert, auch wenn es eines solchen eigentlich nicht bedarf, da Paris – wie es Audrey Hepburn einst in Sabrina (1954) formulierte – ohnehin immer eine gute Idee ist. Bei Aufräumarbeiten im Saarlandmuseum war man vor einigen Jahren auf eine Reihe von Abzügen des deutsch-französischen Fotografen Édouard Baldus (1813–1889) gestoßen, der als einer der ersten professionellen Architekturfotografen in die Geschichte eingegangen ist. Diese recht unbekannten Trouvaillen eröffnen folgerichtig den Rundgang durch die rund 200 Paris-Fotografien. Man steht also vor Aufnahmen allzu bekannter Orte wie dem Louvre, dem Arc de Triomphe oder der Notre-Dame-Kathedrale. Nichts neues also, würde man meinen, und doch – so kommt es einem vor – hat man diese Orte noch nie so gesehen: ohne Menschen, ohne Verkehrsmittel, ohne jegliches Leben. Baldus’ Aufnahmen wohnt etwas geradezu Geisterhaftes inne oder, anders gewendet, etwas Surreales. Man fühlt sich beinahe an die Geister-Orte André Bretons erinnert, etwa die menschenleere Place Dauphine, wo jeden Augenblick die phantomatische Nadja wie aus dem Nichts auftaucht. Insofern faszinieren die Fotografien von Baldus auch trotz der schon tausendundeinmal gesehenen Motive, da man sie eben noch nie auf diese Weise gesehen hat.

Im weiteren Verlauf des Rundgangs wird der Ausstellungsbesucher immer mehr zum Flaneur. In der Abteilung „Humanistische Fotografie“ erblickt man schon von Weitem ein um das x-Fache vergrößertes Duplikat des berühmten „Baiser à l’Hôtel de Ville“ (1950) von Robert Doisneau. Das vom Fotografen signierte „Original“ befindet sich in unmittelbarer Nähe. Jenes Bild der beiden Küssenden und des im Hintergrund vorbeigehenden Passanten mit Baskenmütze hat wohl nicht wenig zum Klischee von Paris als Stadt der Liebe beigetragen. Als ich Ende der 1990er Jahre mein Auslandssemester in der französischen Hauptstadt verbrachte, hing es als Poster in meiner bescheidenen WG-Küche im 19. Arrondissement – mehr Paris ging kaum. Es in Saarbrücken als Originalabzug hängen zu sehen, bescherte mir ein durchaus wechselhaftes Bad der Gefühle: Einerseits hatte ich tatsächlich den Eindruck, alte Bekannte wiederzusehen, in deren Anwesenheit ich die eine oder andere Gauloise Blonde geraucht und den einen oder anderen Beaujoulais Primeur gekippt hatte. Andererseits war ich fast enttäuscht im Angesicht der geringen Ausmaße des Abzugs – vielleicht ist es das, was man als Mona-Lisa-Effekt bezeichnen könnte. Doch zurück zur Ausstellung: Das Kuratoren-Team hat den Fotografien der Pariser Alltagsszenen auf angenehm sparsame Weise ein paar Zitate zur Seite gestellt. Über Doisneaus emblematischen Kuss-Bild ist folgender Ausschnitt aus einer 1950er-Ausgabe des Life-Magazins zu lesen:

„Es geht den ganzen Tag so, dieses öffentliche Küssen, und auch die ganze Nacht. Aber der Fotograf Robert Doisneau, der die ungestellten Bilder auf diesen Seiten gemacht hat, fand zwei Höhepunkte in der Tagesschwankung: 1) um die Mittagszeit, wenn (…) Tausende von Jugendlichen auf die Straßen gelassen werden, und 2) zwischen 17 und 19 Uhr, wenn junge Männer die Abendaktivität einleiten.“

Dem Autor dieser süffisanten Bemerkung war offenbar nicht bewusst, dass es sich bei Doisneaus so oft kopiertem Meisterwerk keineswegs um einen „ungestellten“ Schnappschuss handelt, sondern um ein wohlkomponiertes Werk, das wie kaum ein anderes den Eindruck des Authentischen sowie des baudelaire’schen „fugitif“ lediglich vorgaukelt.

Es geht weiter mit durchweg hochkarätigen Vertretern der französischen Fotografiegeschichte, insbesondere mit den Straßenaufnahmen des 2004 verstorbenen Henri Cartier-Bresson. Wer kennt ihn nicht, den kleinen Jungen, der mit schelmischem Grinsen und zwei Weinflaschen über das Trottoir eines Boulevards läuft und der genauso einem frühen Film François Truffauts entsprungen sein könnte? Schon wieder dieser vertraute Eindruck, dass man hier das Kinder-Porträt eines alten Freundes vor Augen hat. In der benachbarten Abteilung „Fotografien von Parisern“ findet man vor allem jene „Cartes de visite“, die Ende des 19. Jahrhunderts zum beliebten Format der Selbstinszenierung von Berühmtheiten, aber auch von Möchtegern-Stars wurden – eine Mischung aus Instagram und Panini-Album. Hier blickt man unter anderem auf Miniatur-Aufnahmen von Guiseppe Verdi, Gioacchino Rossini und Napoléon III. Ich habe schon oft in meiner Vorlesung zum technischen Fortschritt in der Belle Époque über solche frühen Formen der Selbstvermarktung gesprochen und war nun umso glücklicher, sie in Saarbrücken „im Original“ zu sehen.

Das Ende der Ausstellung bildet ein Schwerpunkt mit Aufnahmen des luxemburgischen Fotografen Romain Urhausen aus den frühen 1960er Jahren. Auf den meisten von ihnen erhascht man Blicke in jene längst untergegangene Welt, die Émile Zola einst als „Ventre de Paris“ (1873) verewigt hat. Man kann sie beinahe riechen, jene Düfte der alten Pariser Markthallen, die Ende der 1960er Jahre abgerissen wurden und wo rund zehn Jahre später das seelenlose Einkaufszentrum Forum des Halles eröffnet wurde. Urhausens Bilder, von denen eines auch auf dem Ausstellungsplakat zu sehen ist, zeigen im Gegensatz zu vielen anderen der ausgestellten Exponate ein Paris, bei dem sich nicht der Eindruck des Vertrauten einstellt. Vielmehr besitzen diese Bilder einer untergegangenen Welt eher ethnografischen Charakter, da sie etwas unwiederbringlich Verlorenes vor dem Vergessen bewahren. Mit demselben Anspruch dürfte auch Zola sein 20-bändiges Porträt des Zweiten französischen Kaiserreichs verknüpft haben – bezeichnenderweise endet die rundum gelungene und nachdrücklich zu empfehlende Ausstellung mit einem Lob der Fotografie des großen Naturalisten.

Wer „Mythos Paris“ noch nicht gesehen hat, sollte sich allerdings beeilen: Die Ausstellung endet am 10. März.

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