Bääm, bääm, bääm

Constance Debré setzt uns in ihren autofiktionalen Romanen die Pistole auf die Brust

Veröffentlicht am
23.1.2023

Lea Sauer

RPTU in Landau
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Denkt man an aktuelle Klassenliteratur, kommen einem wohl zunächst einmal die Aufsteiger in den Sinn, die wie Édouard Louis, Didier Eribon oder die kürzlich mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete Annie Ernaux von ihrer Klassenflucht berichten; von der damit einhergehenden Entfremdung von seinen Ursprüngen und sich selbst, der Traurigkeit, die dies mitunter hervorruft, diesem Unzugehörigkeitsgefühl. Anders Constance Debré, um die es nun gehen soll, denn sie ist eine – es lässt sich nicht anders sagen – transfuge de classe der besonderen Art, und damit wohl eine der kontroversesten, aber auch spannendsten Stimmen der gegenwärtigen, französischen Literaturszene.

Sie stellt schier alles auf den Kopf, was wir über die bisherige Klassenliteratur zu wissen glauben. Zwar schreibt auch sie autofiktional über ihre eigene Herkunft, doch während die erstgenannten Vertreter*innen ihre Kindheit und Jugend damit zubrachten, sich irgendwie aus der Armut herauszuarbeiten (oder auch: herauszuschreiben) kann im Falle von Debré wohl kaum die Rede davon sein, dass sie aus dem Milieu der Abgehängten stammt, also der ökonomisch sowie sozial schwachen France périphérique außerhalb der französischen Hauptstadt. Im Gegenteil, Debré ist die Enkelin des einstigen Premierministers Michel Debré und Nichte des Politikers Jean-Louis Debré, ihre Mutter ist das frühere Model Maylis Ybarnégaray, ihr Vater ein bekannter Journalist. Sie selbst schlug zunächst eine Karriere als Juristin ein und bewegte sich somit in den politischen und ökonomischen Machtzentren der Pariser Oberklasse. Doch dann kam im Jahr 2015 der Bruch: Sie kündigt ihren Job, verlässt Ehemann, Kind und die gemeinsame Wohnung, rasiert sich die Haare ab, outet sich als queer, entsagt der von ihr ausgemachten Enge der Bourgeoisie und widmet sich seitdem dem Schreiben, und zwar nur noch dem Schreiben.

Drei autobiographische Romane sind bislang erschienen, Playboy (2018), Love me tender (2020) und Nom (2022), die alle auf ähnliche Weise von der Suche nach dem richtigen Leben im Falschen erzählen und dadurch auch als ein großer Fortsetzungsroman gelesen werden können, alle drei handeln von der Selbst(er)findung eines durch und durch anti-bürgerlichen Ichs. Und ja, dazu gehört auch die Abkehr von jeglichen Privilegien, die ein solches Leben eben natürlicherweise zu bieten hat: finanzielle und soziale Sicherheit, Familie, eine fest umrissene Identität, eine planbare Zukunft, eine Wohnung, Kinder. So handelt Playboy von ihrem Outing als Lesbe, der Scheidung ihrer zwanzigjährigen Ehe, den Anfängen ihrer Metamorphose. Love me tender schließt daran an und erzählt davon, wie ihr Exmann nach der Trennung gerichtlich durchsetzt, dass Debré ihren gemeinsamen Sohn nur noch unter Aufsicht der Familiensozialhilfe sehen darf, alle zwei Wochen für wenige Stunden, später gar nicht mehr. Er hatte ihr Pädophilie vorgeworfen. Und in Nom berichtet sie vom Aufwachsen in einer vielleicht wohlbetuchten, aber durch und durch verkorksten Familie, von den Eltern, die dem Opium und der Depression zum Opfer fielen, davon, dass wortwörtlich nicht immer alles Gold ist, was glänzt, schon gar nicht die bürgerliche Familie aka Vater-Mutter-Kind-Kind.

Der kleinste gemeinsame Nenner der drei Bücher: Debré lehnt all diese Dinge ab, verzichtet freiwillig auf das alles, um somit endlich, wie sie beispielsweise in Nom betont, diese „vie lamentable“ von sich zu streifen, das heißt das Leben, das sie bisher gelebt hat. Und dies tut sie in einer Radikalität, die durchaus bemerkenswert ist. Nach der Trennung von ihrem Mann hat sie zunächst einmal keine Wohnung, kommt bei Freund*innen unter, ihr Essen stiehlt sie im Supermarkt, ihre einzigen Genussmittel sind die Zigarette am Abend und Sex mit unzähligen Frauen, deren Namen sie, wie sie in Love me tender ausführt, eigentlich noch nicht einmal wissen will.

Debré reiht sich mit ihren Romanen in die Tradition der französischen Queer Literature ein: von de Sade über Hervé Guibert und Guillaume Dustan bis hin zu Despentes, die regelmäßig anzitiert werden und sich ebenso wie sie dadurch auszeichnen, dass sie kein Blatt vor den Mund nehmen. Müsste man Debrés Stil in einem Wort beschreiben, so wäre es: Punk. Da darf es ruhig auch mal etwas ruppiger zugehen, expliziter sein, wütend und provokant. Larmoyanz kann man ihr nun wirklich nicht vorwerfen. Poesie nur, wenn es der Sache dient, das heißt, wenn es in Herz und Nieren trifft. Wie Maschinengewehrschüsse rattern ihre Sätze über das Papier und knallen dabei alles ab, was sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen kann.

Klassenflucht mal anders, raus der High Society der Pariser Edelviertel, rein in die Armut einer radikalen Queer-Bohème – interessanter Take, ohne Frage, aber funktioniert das denn auch als literarische Erzählung? Darf sie das? Oder konkreter gefragt: Kann man, so wie Debré es tut, von der Klassenflucht ‚von der anderen Seite‘ erzählen? Sollte man es gar, um beispielsweise wie die Millionen-Erbin Marlene Engelhorn, einen Diskurs über die Aufteilung von Reichtum und gesellschaftlichen Privilegien zu lancieren? Darum soll es nun im Folgenden gehen, denn diese Fragen sind interessant; und das nicht nur, weil die Literatur und das Schreiben der Aufsteiger von den Schreiberlingen selbst nicht selten zur Waffe im Kampf gegen die sozialen Ungerechtigkeiten stilisiert wird. Wen wundert es auch, für sie war es in der Regel ja tatsächlich das Vehikel, das sie in die intellektuellen und damit besseren Kreise brachte. Die Reflexion über und die Offenlegung von eigenen Privilegien gehört in diesen linksintellektuellen Kreisen längst zum guten Ton, oft um dann rein gar nicht an diesen Privilegien zu rütteln, sondern sie durch die Reflexion eher noch weiter zu manifestieren, so als würden sie sich durch die reine Kenntnisnahme schon in Luft auflösen. Frei nach dem Motto: Ich denke (dran), also bin ich (nicht). Es ist genau dieser Reflex der bürgerlichen Intellektuellen, den Debré in ihrem Schreiben angreift, den sie an sich selbst hasst und mit der angemessenen Provokation aufs Papier bringt.

An den besten Stellen geht Debrés Schreiben somit durch Mark und Bein. Insbesondere Love me tender ist so entlarvend und herzzerreißend, wie man es lange nicht mehr, vielleicht sogar noch nie, gelesen hat. Die Misogynie und Homophobie, die ihr von Ex-Mann und Staat gleichermaßen entgegenschlagen und wie sie diesen trotzt, ist bewundernswert. Hier begleitet man tatsächlich jemanden auf der Suche nach dem, was Liebe im Angesicht des kompletten Verlustes bedeuten kann. Überhaupt ist es erfrischend zu lesen, wie sich eine Frau gegen jegliche Zuschreibungen wehrt, sich auch jenseits der Fünfzig in Playboy noch selbst neu erfindet und damit überhaupt erst das vernünftige, erwachsene, sich vollends entwickelte und in seiner Mitte ruhende Ich als bürgerliche Farce entlarvt. Dass das all diejenigen provoziert, die sich in ihrer Bürgerlichkeit eingerichtet haben, ist kaum verwunderlich. Und ich glaube, dass ein Teil meiner persönlichen Faszination für die drei Debré-Bücher auch darin liegt, dass ich selbst mich in den vergangenen Jahren viel zu sehr eingerichtet habe in meiner Altbauwohnung, die zwar in einem Brennpunktviertel liegt, aber nur, damit der Stuck auch schön billig ist, in meiner Queerness, die ich zwar offen lebe, aber immer häufiger dann doch von Mann und Kind spreche, wenn ich Familie meine; ab und zu eine Demo, um mir selbst und anderen zu zeigen, dass ich mit dem gesellschaftlichen Status quo ja eigentlich doch nicht so ganz einverstanden bin, dann Yoga, um mit dem Stress klarzukommen.

Und doch stört mich manches Mal die Wut, die Debré an den Tag legt, sie provoziert mich nicht nur, sondern weist mich ab, und damit meine ich: sie hält mich als Leserin fern von sich, schafft eine emotionale Distanz, die mir unangenehm ist. Und dies ist auch das, dem ich gerne nachgehen will in diesem Text, denn ich kann mich nicht erinnern, schon einmal ein Buch gelesen zu haben, das mich gleichzeitig so sehr angezogen und abgestoßen hat – und bei Debré passierte es direkt dreimal in Folge. Vielleicht sind es die Ambivalenzen, die mich stören. Ihre Sätze lassen mich ratlos zurück und sind nicht selten gar problematisch. Zum Beispiel dann, wenn sie in Love me tender die Mutterrolle nicht nur kritisiert, sondern grundsätzlich ablehnt: „Je ne suis pas une mère. Bien sûr que non. Qui voudrait l’être? À part celles qui ont tout raté?“ (dt. Ich bin keine Mutter. Natürlich nicht. Wer würde das schon sein wollen? Außer denen, die den Knall nicht gehört haben?). Vor dem Hintergrund ihrer traumatischen Erfahrungen sind solche Sätze durchaus nachvollziehbar, doch warum diese grundsätzliche Ablehnung, die Beleidigung von Frauen, die sich vielleicht tatsächlich für das Muttersein entscheiden? Haben die wirklich alle einfach den Knall nicht gehört?

Es stört mich beispielsweise dann, wenn sie in Nom in einer Art unzensiertem Gedankenstrom davon berichtet, wie sich die ungeschriebenen Höflichkeitsgesetze der Oberklasse in sie eingeschrieben haben und dazu führen, dass sie eine unbewusste Abscheu vor den Armen verspürt:


„Toutes ces manières, ces bonnes manières que je connais par cœur, je les déteste. Je les déteste parce qu’elles sont en moi, incrustées bien plus que le sang, elles sont plus qu’une langue, elle sont un corps, elles sont mon corps qui fait que je reconnais les autres corps comme le mien et que je repère les autres, ceux qui ne savent pas, ceux qui vont me faire chier avec leurs angoisses de pauvres, avec leurs complexes de pauvres, avec leur maladresse de pauvres, leur vulgarité de pauvres à être obsédés par les classes, avec leur goûts de pauvres qui croient au bon goût, avec leur croyances de pauvres sur les riches (…).“


Ich hasse all die Manieren, die guten Manieren, die ich auswendig kenne. Ich hasse sie, weil ich aus ihnen bestehe, mehr noch als das Blut, mehr noch als die Sprache, sind sie ein Körper, sie sind mein Körper, der macht, dass ich andere Körper als den meinen erkenne und ich andere orten kann, diejenigen, die nichts davon wissen, diejenigen, die mir mit ihren Armenängsten auf den Sack gehen, mit ihren Armenkomplexen, mit ihren Armenungeschicklichkeiten, mit ihrer Armenvulgarität von den Klassen besessen zu sein, mit ihrem Armengeschmack, bei dem man an den guten Geschmack glaubt, mit ihren Armenvorstellungen von den Reichen (…).


Gut, das mag jetzt selektiv wirken, aber solche Stellen finden sich zuhauf in den Büchern. Und sie stehen exemplarisch für den Ton, den sie anschlägt, die Schleifen, die ihr Denken nimmt. Was mich an solchen Stellen stört, ist die radikale Subjektivität. Hier steht kein politisches Konzept, keine Haltung hinter den Sätzen, sie wirken ungefiltert und direkt. „Écrire à la première personne, c’est se montrer en train de vivre et de chercher“ (dt.: In der ersten Person zu schreiben bedeutet, auszustellen, wie man lebt und auf der Suche ist), verkündete Constance Debré kürzlich in einem Interview mit Télérama. Und genau das tut sie ja, ihr Leben beschreiben, von ihrer Suche erzählen. Den Anspruch, dass Literatur immer auch eine politische Haltung transportieren sollte, kann man natürlich kritisieren, und das wird es ja auch, wie die von Moritz Baßler im vorletzten Jahr angestoßene Diskussion um den Midcult in der Literatur noch einmal deutlich machte. Vielleicht sitze ich hier auch meiner eigenen Misogynie auf, schließlich traut sich hier eine das, was schreibende Männer seit jeher erfolgreich tun: literarische Nabelschau. Vielleicht ist auch dieses radikale Kreisen um das eigene Selbst etwas, was ich mich nicht traue, weil es sich für mich vermeintlich nicht gehört. Es stört mich, weil die Alternative wäre, etwas an meinem individuellen Status quo zu ändern – und das klingt so anstrengend. Es stört mich, weil mir hier jemand vor Augen führt, was ich mich alles (noch) nicht traue, wo ich in letzter Konsequenz dann doch einknicke vor meiner eigenen Bequemlichkeit, dem gesellschaftlichen Druck.

Doch ich glaube, mich stört da noch etwas anderes, etwas Grundlegenderes. Stellen wie die oben zitierten, lesen sich beinahe so, als wolle Debré die Frauen/die Armen/die Bürgerlichen davon überzeugen, der Bourgeoise nicht nachzueifern, sondern im Gegenteil, sie ebenso abzulehnen wie sie selbst. Kommt schon, scheint sie zu sagen, nehmt euch, was ihr wollt, jetzt! Und genau dieser Appell an die Freiheit ist erfrischend provokant, ja. Doch es ist auch genau ihr größtes Problem. Mit ihrer einzelkämpferischen Massakermethode kommt die strukturelle Analyse gesellschaftlicher Phänomene manches Mal zu kurz, es hindert sie daran, wirklich zu den Ursprüngen des ganzen staatsbürgerlichen Horrors vorzudringen. Denn sie wendet sich so gegen alle gesellschaftlichen Konzepte, die als gemeinschaftliche (oder auch: humanistische) Projekte begannen, wie beispielsweise Feminismus, mögliche Schwesterlichkeit, Queerness oder Transhumanismus. Debré lässt keinen Zweifel daran, dass sie eine Guerilla ist, allein, im Untergrund, diszipliniert und beinhart, mit sich und der Welt. Was unweigerlich zu der Frage führt: Darf man von Menschen – insbesondere benachteiligten – verlangen, dass sie sich von dem ganzen Zwang einfach nur mal befreien müssten, um wirklich frei zu sein? Los jetzt, alle mal Zähne zusammenbeißen, Arsch hoch, wie Debré möglicherweise sagen würde, und ab in ein Leben der Unabhängigkeit?

Ich glaube kaum. Doch Debré denkt nicht in diesen Kategorien. Statt Klassenkampf wird uns hier einfach Ablehnung der Bürgerlichkeit empfohlen, gesellschaftlicher Ausstieg – aber zu welchem Preis? Solche Forderungen können in Zeiten der Polykrise, Oxfam-Studie und Co. vielen eigentlich nur zynisch erscheinen. Die strukturellen Probleme werden so am Ende doch wieder auf das Individuum abgewälzt, das sich einfach nur mal wieder (und vorgeblich aus freiem Willen heraus) für seine Position entscheidet. Letztendlich ein durch und durch neoliberales Motiv. Doch, und genau an dieser Stelle würde ich Debré ausdrücklich widersprechen: Freiheit ist eben keine individuelle Entscheidung, Freiheit ist etwas, was nur im Kollektiv funktioniert. Ansonsten ist man einfach nur allein. Das wusste bekanntermaßen schon Marx, der einstmals behauptete, erst in der Gemeinschaft sei persönliche Freiheit möglich. Debré vergisst zudem, dass sie sich diese individuelle Freiheit erkämpfen kann, weil sie einen gewissen Background und gewisse Privilegien hat. „Quel est ton nom, Personne, c’est rien le nom, c’est comme la famille, c’est comme l’enfance, je n’y crois pas, je n’en veux pas“ (dt. Wie lautet dein Name, Niemand, der Name bedeutet nichts, es ist wie mit der Famille, wie mit der Kindheit, ich glaube nicht daran, ich will es nicht), schreibt sie in Nom. Oder auch (vielleicht sogar in Abgrenzung zu Louis’ Erstling En finir avec Eddy Bellegueule?): „Ça se refuse un héritage, je ne parle pas d’argent, (…) je parle de la croyance, de la fidélité. Il faut en finir avec l’origine, je ne garde pas les cadavres.“ (dt. Ein Erbe muss abgelehnt werden, ich spreche nicht von Geld, (…), ich spreche vom Glauben, von Treue. Man muss der Herkunft ein Ende bereiten, ich bewahre keine Leichen.) Doch so oft sie auch wiederholt, dass unsere Herkunft nichts zählt, ja, gar nicht erst etwas zählen darf, so ist es doch letzten Endes eher Wunsch als Fakt. Sie ist schließlich die Autorin, die bei Flammarion publiziert.

So macht es letztlich eben doch einen Unterschied, wer von einer Klassenflucht erzählt; es macht einen Unterschied, wie davon erzählt wird, ja, die Sprache konkret macht den Unterschied. Es wäre durchaus wünschenswert, wenn sich mehr wohlhabende Menschen zu gesellschaftlichen Ungleichheiten äußern würden, wenn die Aufteilung von Ressourcen reflektiert und dann schließlich tatsächlich neu geregelt würde, strukturell, gesellschaftlich, nicht individuell. Das ist, zumindest meiner Ansicht nach, längst überfällig. Und auch – und dies ist kein Widerspruch – eine radikale Stimme wie die von Debré ist längst überfällig. Ihr Anspruch an die Literatur hat etwas Existenzielles; was gut ist, denn: sie hat was zu sagen, das spürt man, körperlich fast, auf jeder einzelnen Seite. Ein bisschen weniger Wut, mehr Weitblick hätten den Büchern, hätte mir gutgetan, als Leserin, das gebe ich zu. Es ist schließlich deutlich bequemer utopische Zukunftsvisionen von neuen Gesellschaftsformen zu lesen, als zu hören, dass Gemeinschaft an sich einfach überbewertet ist. Jeder für sich allein – das macht es schwer, wirklich mitzufühlen, die Bücher an mich ranzulassen. Die Utopie, ein weißes Blatt zu sein, immer wieder neu sein zu können, wenn man nur will, hat allerdings in all ihrer Unbequemlichkeit dann doch auch etwas Befreiendes. Und ich glaube, genau diesen Widerspruch muss man aushalten, wenn man Debré lesen will.

Sie fand es, so erklärte sie kürzlich dem Guardian in einem Interview zu der kürzlich erschienenen englischen Übersetzung von Love me tender, interessanter aus der Perspektive einer Figur zu schreiben, die die Opferrolle einerseits ablehnt, aber das empfundene Leid andererseits nicht leugnet. Und gerade diese Ablehnung der Opferrolle, und auch die Ambiguität dieser Perspektive – auch wenn es um die Abgehängten der Gesellschaft geht – macht den Reiz ihres Schreibens aus. Vielleicht ist es genau der Tritt in den Hintern, den die Bourgeoisie braucht, die letzte Aufforderung zum Erheben der Stimme, die die Armen brauchen, die letzte Provokation aller (Nicht-)Privilegierten, von mir. Im Februar erscheint ihr neuester Wurf, Offenses (2022), was auf Deutsch soviel wie ‚Beleidigung‘ oder ‚Kränkung‘ bedeuten kann. Wenn man die vorherigen Bücher gelesen hat, ahnt man bereits, dass der Titel durchaus wörtlich zu nehmen ist. Debré wird uns allen, daran besteht kein Zweifel, erneut die Pistole auf die Brust setzen.

Die Romane sind bisher noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen. Übersetzungen der Zitate in diesem Artikel von der Verfasserin.

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