Keinesfalls banal: Wenn das Gewohnte zum Problem wird

In "La vie ordinaire" (2020) geht Adèle van Reeth den Erfahrungen des Gewöhnlichen auf den Grund

Veröffentlicht am
30.1.2024
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Ich bin Serientäter. Lese ich einen Roman von einem Autor oder einer Schriftstellerin, der mir gefällt, dann arbeite ich mich sehr gerne durch die vorherigen Veröffentlichungen, auf der Suche nach verbindenden Linien, nach Entwicklungen. Das betrifft nicht nur Felwine Sarr und Emma Becker, sondern zuletzt auch die Philosophin und Radiomoderatorin Adèle van Reeth, deren Inconsolable (2023) auf einer Dienstreise im Sommer in meinen Koffer wanderte. Wie ich schließlich feststellen konnte, handelte es sich dabei um ihren zweiten bei Gallimard erschienenen Roman. Grund genug für mich, ihr bereits vor drei Jahren erschienenes Debüt La vie ordinaire (2020) zu lesen und zu rezensieren.

Ihre erste Autofiktion entspringt zunächst einmal einem ehrenwerten Bemühen: Wie auch in Inconsolable holt van Reeth die Philosophie, so häufig hinter verschlossenen Türen in akademischen Elfenbeintürmen betrieben und in komplexe Gedankenexperimente verstrickt, zurück auf die Erde! Ihre Erkundung des Gewöhnlichen wurzelt in eigenen Erfahrungen. Sie sind der Motor der Reflexion, der Anknüpfungspunkt für das Denken. Das teilt sie mit der Phänomenologie, das teilt sie mit dem Existentialismus von Sartre und von Camus. Entsprechend verwundert es auch nicht, dass Sartres La Nausée („Der Ekel“, 1938) eine wichtige Inspirationsquelle für die Philosophin ist: Wie Roquentin seinen Versuch schließlich abbricht, eine Biographie zu schreiben und beschließt, sich der Fiktion zuzuwenden, gibt van Reeth ihre ursprüngliche Idee auf, einen Essay über das Gewöhnliche zu schreiben. Stattdessen halten wir mit La vie ordinaire eine Autofiktion des Ordinären in den Händen.

Dass der Text als Essay nicht funktioniert, liegt für sie darin begründet, dass das Gewöhnliche nicht wirklich konzeptuell fassbar gemacht werden kann, sondern im Grunde genommen eine stetige Suche, eine Entdeckungsreise, eine Expedition ist, zu der man aufbrechen muss. Zu dieser Erkenntnis verhilft ihr der Harvard-Philosoph Stanley Cavell, den sie zum Sushi trifft. Zum Sushi mit einem Philosophieprofessor aus den USA? Ja genau, Sie haben richtig gehört. Dieses Treffen ist ein Highlight in van Reeths Roman, weil es den Leser mit ihren eigenen ästhetischen Grundsätzen vertraut macht. Statt die Theorie von Cavell bloß wiederzugeben, baut sie sie in einen Dialog ein. Philosophie wird als Begegnung zwischen gleichgesinnten Menschen verstanden, getrieben von der gemeinsamen Neugier, den eigenen Erfahrungen auf den Grund zu gehen. Die berühmten Denker, mit denen sich van Reeth auseinandersetzt, werden anders gesagt zu Protagonisten in ihrer Fiktion. Das gilt nicht nur für Cavell, sondern auch für einen anderen berühmten Schriftsteller und Philosophen, nämlich Albert Camus.

Die grundlegende Referenz in La vie ordinaire bleibt jedoch Sartres Existentialismus, dessen Grundannahmen van Reeth teilt: Eine Welt ohne Gott bedeutet die objektive Sinnlosigkeit des Lebens, als subjektive Kehrseite dazu gehört die Kontingenz, der Zufall der menschlichen Existenz, die in das Universum geworfen ist.

Vor diesem philosophischen Hintergrund verortet van Reeth auch das Gewöhnliche. Es ist das Sein an sich in seiner bloßen Faktizität. Es ist weder banal noch alltäglich, weder gut noch schlecht, es ist einfach da, wie ein geschnittener Fußnagel. Das Gewöhnliche überfällt einen in den verschiedensten Lebenslagen und kann diverse Emotionen auslösen. Um das näher zu illustrieren, bezieht sich van Reeth erneut auf Sartres Roquentin als philosophischen Gewährsmann: Die Entdeckung seiner eigenen kontingenten Existenz löst in ihm den Ekel aus.

Der Ekel ist das entscheidende Stichwort des Romans, denn die Schriftstellerin kontrastiert ihn mit dem Ekel in der Schwangerschaft. Den verspürt sie, während ihr erstes Kind in ihr heranwächst. Dieses Gefühl ist gerade nicht der Ausdruck von Kontingenz, sondern der Tatsache, dass ihre Existenz für das Baby in ihrem Bauch zwingend notwendig ist. Die Schwangerschaft ermöglicht eine doppelte Erfahrung: Erstens wird die absolute Sinnlosigkeit aufgehoben, weil der Andere ohne mich nicht sein kann. Zweitens ist das Kind in ihrem Bauch ein Ausweg aus dem Skeptizismus. Nicht Descartes’ radikaler Zweifel führt zu der unhintergehbaren Gewissheit der eigenen Existenz, sondern die Schwangerschaft: Nicht Ich denke, also bin ich, sondern die Erfahrung Ich bin schwanger, also bin ich. Das ist großartig arrangiert und zugleich ein origineller Seitenhieb auf die Problemstellungen und Lösungsversuche in der bis in die Neuzeit vornehmlich von Männern betriebenen Disziplin der Philosophie. Damit möchte van Reeth übrigens keinesfalls sagen, dass sich Philosophie nur betreiben lässt, wenn man bestimmte Erfahrungen machen kann bzw. gemacht hat. Stattdessen zeigt sie bloß, dass Schwangerschaft, Frausein und Muttersein in der Philosophiehistorie viel zu kurz gekommen sind.

Das Spiel mit der Fiktionalisierung der eigenen Lebensgeschichte gelingt Adèle van Reeth in ihrem Debüt – Achtung Wortwitz! – außergewöhnlich gut! Das verbindende Element zwischen La vie ordinaire und Inconsolable ist nicht allein das ‚Je‘, das die eigenen Erfahrungen erzählt und reflektiert, sondern auch der schwer kranke Vater. Sicherlich ist der autofiktionale Versuch, eine Philosophie des Gewöhnlichen zu schreiben, angesichts der starken Orientierung an Sartre, Camus, Emerson, Thoreau und Cavell alles in allem kein großer Wurf, sondern eher alter Wein in neuen Schläuchen. Die Originalität, die ihr zugestanden werden darf, besteht hingegen in der Eröffnung einer philosophischen Perspektive auf die grundlegenden Erfahrungen von Frausein, Schwangerschaft und Existenz. Eine Sichtweise übrigens, an der man sich reiben kann und auch muss. Dass van Reeth die lebenspraktischen Implikationen dieser Reflexionen über Schwangerschaft als Ausweg aus der Kontingenz im weiteren Verlauf gerade nicht (mehr) bedenkt, finde ich sehr schade. Feststeht jedoch, dass van Reeth einen Themenkomplex erschließt, der in der Philosophiegeschichte allenfalls stiefmütterlich behandelt worden ist. Ihr Roman lässt sich als Philosophie des Gewöhnlichen, als feministischer Neoexistentialismus, als Buch über die Mutterschaft oder über das spätmoderne Leben einer Patchworkfamilie etikettieren. Ihr Roman ist mehr als das alles. Er passt in keine Schublade. Und das ist gut so.

Adèle van Reeth: La vie ordinaire, Paris: Gallimard 2020, 188S.

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