Die Streifzüge der Erzählerin in Begleitung ihres Freundes Thierry führen durch die nordöstlichen Banlieues von Paris – das berüchtigte Département Seine-Saint-Denis, auch kurz neuf-trois genannt nach der Nummer des Autokennzeichens. Diese Banlieues waren in der Frühen Neuzeit durch die Zollgrenzen von der Hauptstadt getrennt und sind heute durch andere Grenzen, nicht nur den „Périphérique“, vom Zentrum abgeschnitten. Der Titel Bannmeilen greift die wörtliche Bedeutung von banlieues auf – einst wirtschaftsprotektionistische Zonen von einer Meile Breite, die als Schutz- und Verbotszonen der städtischen Gerichtsbarkeit unterstanden. Heute erinnern die Vorstädte, die sich in diesen Bannmeilen seit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts herausbildeten, nur noch namentlich an den historischen Ursprung. Und während sie immer weiter ins Land ausufern und immer dichter bevölkert sind, werden sie vor allem, begünstigt durch Zeitungsartikel und Filme, mit Migration, Drogenhandel, Kriminalität, Armut und Islamismus assoziiert. Hierher also begibt sich die Erzählerin auf immer weiter ausgreifenden Wanderungen. Ihr Begleiter und Freund Thierry ist Filmemacher, algerischer Franzose; sein Vater kam 1957 während des Unabhängigkeitskrieges 17-jährig als Arbeitsmigrant nach Frankreich, schwängerte und heiratete eine Französin – die mit 20 Jahren schon einen Sohn von einem „weißen Schornsteinfeger“ hatte (S. 95) – und tat alles, um sich zu assimilieren. Der Sohn ist im Neun-Drei-Département aufgewachsen, in La Courneuve geboren, in Le Bourget zur Schule gegangen, mit zeitweiligen Wohnort Drancy, wo während der deutschen Besatzung das Gefangenenlager für Juden war. Von hier aus wurden sie deportiert. Aus 93 ist Thierry nie herausgekommen, kennt sich also in den Randzonen der Metropole bestens aus. Er kultiviert seine algerische Herkunft, beharrt auf seiner Daseinsweise entre deux ailleurs und wird von seiner Begleiterin geneckt, weil er doch alle Züge eines sehr französischen Bobos hat – Brot beim Biobäcker kauft und seinen eigenen Manierismus pflegt. Während nämlich der Vater noch Analphabet war, spricht er selbst im passé simple, dem Tempus, das man heutzutage allenfalls noch in gehobener Schriftsprache und in der älteren Literatur findet. Thierry ist im Auftrag unterwegs, die aus dem Boden schießenden Olympiabauten und die Auswirkungen auf die jeweilige Umgebung zu fotografieren – die meisten Wettkampfstätten finden sich, zusammen mit dem Athleten- und Mediendorf, in Seine-Saint-Denis. Und so macht sich die Erzählerin, die unschwer als Anne Weber zu erkennen ist, mit Thierry auf den Weg. Morgens treffen sich die beiden an nordöstlichen Métrostationen oder an Bahnhöfen des RER – Gare du Nord, Porte de la Chapelle, Le Bourget, La Courneuve-Aubervilliers, Bobigny, Clichy-sous-Bois –, dann streunen sie los. Es ist Anfang Januar, die Luft kalt, der Himmel meistens bleigrau. Am Ende werden sie 600 Kilometer durch neuf-trois gewandert sein, und das scheint der „Frau auf Wanderschaft“ (vgl. S. 22), die den Banlieues zuvor eine bestürzende Gleichgültigkeit entgegengebracht hatte, erst der Anfang zu sein.
Für Annette, ein Heldinnenepos (Berlin, Matthes & Seitz, 2020) über Anne Beaumanoir, Widerstandskämpferin im Zweiten Weltkrieg und Aktivistin im algerischen Befreiungskrieg, erhielt Anne Weber 2020 den Deutschen Buchpreis, zeitgleich hat sie es – auch Übersetzerin Wilhelm Genazinos ins Französische und Paul Michons und Georges Perecs ins Deutsche – in französischer Sprache publiziert (Annette, une épopée, Paris, Seuil, 2020). Annette, ein Heldinnenepos ist ein Buch über den erstaunlichen Lebensweg einer Bretonin, die sich als Jugendliche der kommunistischen Résistance anschloss und für die Rettung verfolgter Juden später den Ehrentitel Juste parmi les nations, „Gerechte unter den Völkern“ erhielt, die nach dem Krieg Neurophysiologin und wegen ihres Engagements in Algerien zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Anne Weber, die Autorin, lebt seit 40 Jahren in Paris; sie ist Pariserin, das heißt, dass sie innerhalb des Boulevard Périphérique wohnt, der „ville“ und „banlieue“ topografisch und durch eine tagsüber und manchmal auch nachts ununterbrochene Autokolonne trennt. „Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar definiert“ (S 8). Die Randzonen mit ihren Lebenswelten jenseits des Rings kennt Weber bisher nicht aus eigener Anschauung, was für die intellektuell-künstlerische Blase ihres ganzen Freundeskreises gilt. Das ändert sich mit den Streifzügen, und während sich die Freunde intra muros über ihre abenteuerlichen Interessen wundern und Thierry sie ihrer Blasiertheit wegen neckt, entdeckt sie zusammen mit ihm Schönes dort, wo andere nur Hässliches sehen. Sie sieht, was dem raschen Blick verborgen bleibt, sammelt Eindrücke und nimmt völlig nutzlose Gegenstände mit nach Hause – eine glaneuse, die wie die Filmemacherin Agnès Varda eine ästhetische Nachlese betreibt und nicht aus Not stoppelt (vgl. den Film von Agnès Varda, Les glaneurs et la glaneuse, 2000; zuletzt auch Judith Kasper, Land und Streit. Spuren der Nachlese, 2024).
Das Buch in 18 Kapiteln besteht aus tagebuchähnlichen Aufzeichnungen und Reportagen. Die Autorin, zugleich Streunerin, Sammlerin und Erzählerin, berichtet von Beobachtungen und Begegnungen, die sie auf ihren Streifzügen durch 93 macht und abgleicht mit dem, was sie zu wissen glaubte, mit den Bildern und Geschichten also, die in der Regel Folgendes wiedergeben: Riesige Wohnblocks, Gruppen dunkelhäutiger Kinder, tief verschleierte Frauen, Obdachlose unter Plastikplanen, Sperrmüll im Überfluss und das jeden Tag, die kaputtesten Briefkästen, chouffeurs, die für die Drogenhändler der Viertel Wache schieben und durch langgezogene Rufe, die der Ahnungslosen zunächst wie ritualisierte Klagegesänge erscheinen, vor Polizeistreifen warnen. Und Orte, zu denen ausschließlich Männer Zutritt haben. Tatsächlich ist dieses alles augenfällig und präsent. Es sticht geradezu ins Auge und signalisiert Fremdheit, und ja, es nervt auch die Spaziergängerin von 93, nicht zu wissen, wo sie in Vierteln mit Namen Cité des 4000 zwischen trostlosen Wohnblocks namens Balzac und Cézanne oder auf Straßen mit sowjetischen Namen oder Namen ehemaliger Kolonien etwas zu essen bekommt oder zur Toilette gehen kann, wenn Frauen die Cafés doch nicht betreten dürfen und weit und breit kein Supermarkt, kein Kiosk zu finden ist. Stattdessen immer wieder Baustellen, Autobahnbrücken, Nationalstraßen, Unterführungen, Friedhöfe, Brachen und vielleicht hier und dort ein armseliges und doch tapferes, resilientes Fleckchen urban gardening. Was also treibt sie jeden Tag wieder hierher? Ist es die Neugier einer Elendstouristin, ist es jenes slumming, das wie das Schlachtenbummeln schon im 19. Jahrhundert als Geschäftsmodell aufkam? Diese Frage stellt sich die Autorin, die nicht nur genau hinschaut, sondern auch präzise nachfragt, auch bei sich selbst: „Wollen wir doch mal schauen, wie die Leute in diesen berüchtigten Gegenden leben, von denen im Jahr 2005 die Aufstände, die dann auf Vorstädte in ganz Frankreich übergriffen, ausgegangen sind. So etwa? Nein, nein, eine solche Neugier hätte ich abstoßend gefunden. Doch wahrscheinlicher, ja schlimmer noch erscheint mir heute, dass ich gar keine Neugier empfand. Jeder lebte für sich, die einen drinnen und die anderen draußen, [...]“ (S. 10).
Anne Weber macht staunen, weil sie Orte aufsucht, die man hier nicht erwartet – die neuen Archives Nationales, die Tresore der Banque de France – und Orte, die ergreifende, in der offiziellen Geschichtsschreibung vielfach vergessene Ereignisse und Zusammenhänge erzählen: der Platz Sidi Ahmed Hammache vom Tod des 11-jährigen Jungen, der 2005 während der Aufstände in den Vorstädten von einer fehlgeleiteten Polizeikugel erschossen wurde, als er gerade das Auto seines Vaters wusch; der muslimische Friedhof in Bobigny vom Leben des Olympiasiegers Boughéra El Ouafi, der lebenslang arm blieb, aber zwischen Botschaftern und Prinzen liegt, und vom Schicksal der hier begrabenen tireurs sénégalais, die seit dem Deutsch-Französischen Krieg in der französischen Armee an vorderster Front eingesetzt und, soweit sie überlebten, nicht angemessen bedankt wurden. Sie findet an einem Wohnblock in Pantin, in der Nähe der Großen Moschee, eines ehemaligen gallischen Dorfs und eines franko-muslimischen Krankenhauses eine verrostete Plakette mit dem Hinweis, dass Albert Uderzo und René Goscinny 1959 hier, in der Rue Rameau, die Urgallier Asterix und Obelix erfanden. Die größte Entdeckung aber, inmitten eines ganzen „Netzwerks von Zufälligkeiten“ (S. 91), ist Rachids Café, „ein familienartiges, aber nach außen offenes Gebilde“ (S. 80), das den misérables der Vorstädte alltäglich ein Zufluchtsort ist und auch den beiden Streunern ein vertrautes Ziel wird. Denn auch die Pariserin Anne bekommt hier Kaffee für einen Euro und zugleich einen Eindruck „vom Schweigen, das sich nach schlimmen Zeiten ausbreitet, vom Schweigen der Deutschen und Juden und Franzosen und Algerier“ (S. 171). Während sich gleichzeitig dort auch Covid-Leugner mit ihrer Wut auf die „Leutchen da oben“ Gehör verschaffen, unschöne homophobe Sprüche geklopft werden und Präsident Macron, glaubt man den Rednern, ganz sicher schwul ist.
Selten hat man so wach und mit einem so offenen Herzen und Verstand von diesen Widersprüchen erzählen hören, vom Versuch aber auch, einander zu verstehen. Das allein ist ein ungeheures Verdienst. Dass gleichzeitig so viel Überraschendes und Berührendes zu entdecken ist, selbst alte Schauplätze aus Victor Hugos Welt – Cour des miracles und Montfermeil – zu neuem Leben erwachen und die Streifzüge grundiert sind von dem heiteren, ironisch-kritischen Tonfall der Gespräche unter Freunden, das hinterlässt den Eindruck, dass man gerne hätte weiterlesen mögen und am liebsten dabei gewesen wäre. Oder vielleicht Lust bekommt, selbst aufzubrechen.
Anne Weber, Bannmeilen, Berlin, Verlag Matthes & Seitz, 2024, 302 S.
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