Frankreich ächzt schon seit Monaten unter den Folgen einer extremen Hitzeperiode. Die Temperaturen gehen nicht selten über die 40-Grad-Grenze hinaus. Das Trinkwasser wird rationiert, die Wälder brennen. Als ob das nicht schon genug wäre, plagt das Land eine aggressive Corona-Variante, weshalb die Regierung abermals einen harten Lockdown verhängt hat. Nur Menschen in systemrelevanten Berufen dürfen noch ihre eigenen vier Wände verlassen. Es kommt erwartungsgemäß immer häufiger zu Ausschreitungen und Protesten, weil die Bürger sich nicht länger in ihren überhitzten Wohnungen einsperren lassen wollen. In dieser Situation beschließt die Präsidentin Nathalie Séchard, deren Zustimmungswerte gerade mal noch bei 13% liegen, dass sie nicht für eine zweite Amtszeit kandidieren und stattdessen lieber viel Sex mit ihrem 26 Jahre jüngeren Mann Jason haben möchte – wer könnte es ihr verübeln? Diese folgenschwere Entscheidung setzt einen unerbittlichen Machtkampf in Gang, der sich zwischen ihrem Innenminister, dem rechtskonservativen Metzgerssohn Patrick Beauséant, und dem grünen Umweltminister, dem alleinerziehenden Witwer Guillaume Manerville, entspinnt. Beide wollen nun auf ihre Weise verhindern, dass bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr der rechtsextremistische Bloc Patriotique den Sieg davon trägt. Aber vor allem wollen sie beide an die Macht.
Was bis hierher klingt wie ein dystopischer Blick in die nahe Zukunft, wird von Jérôme Leroy in seinem jüngsten Roman Les derniers jours des fauves (2022, dt.: Die letzten Tage der Raubtiere, 2023) in einen düsteren politischen Noir-Thriller mit nicht weniger als vierzig teils bestialisch zugerichteten Mordopfern verwandelt. Leroy gilt hierzulande immer noch als Geheimtipp unter den derzeit erfolgreichen Krimiautoren. Sein Roman Le Bloc (2011, dt.: Der Block) wurde erst sechs Jahre nach seinem Erscheinen von Cornelia Wend für den Nautilus-Verlag ins Deutsche übertragen und durchweg hymnisch von den Feuilletons besprochen. Schon dabei handelte es sich um einen Schlüsselroman auf den Front National, in dem mit der Parteichefin Agnès Dorgelles, ihrem Ehemann Antoine Maynard und dem Killer Stanko Figuren auftauchen, die auch in Les derniers jours des fauves zumindest ein paar Gastauftritte erhalten. Le Bloc war abwechselnd aus der Perspektive von Maynard, dem intellektuellen Vordenker des Bloc, und Stanko, dem Chef des parteiinternen, paramilitärischen agierenden Ordnungsdienstes, erzählt. Die Handlung umfasste gerade mal eine Nacht, in der Agnès Dorgelles Regierungsverhandlungen führt und daher ihre Altlasten, zu denen Stanko gehört, aus dem Weg räumen lassen will. Es war sicher kein Zufall, dass die deutsche Übersetzung ausgerechnet 2017 auf den Markt kam, in jenem Jahr, als in Frankreich das bis dato bewährte Parteiensystem implodierte, und mit Emmanuel Macron der Chef einer neuen politischen Bewegung zum Président de la République gewählt wurde. Außerdem war Frankreich 2017 Ehrengastland auf der Frankfurter Buchmesse.
Man könnte nun angesichts der wiederkehrenden Figuren die Vermutung aufstellen, dass es sich bei Les derniers jours des fauves um eine Art Fortsetzung von Le Bloc handelt. Das stimmt jedoch nur teilweise. Insbesondere die Erzählweisen der beiden Romane unterscheiden sich erheblich: Handelte es sich, wie bereits erwähnt, bei Le Bloc um eine Erzählung aus Sicht der beiden Hauptfiguren (Maynard spricht sich selbst mal bewundernd, mal zynisch in der zweiten Person Singular an, Stanko redet unvermittelt in der Ich-Form), so lässt Leroy in seinem aktuellen Werk einen allwissenden Erzähler auftreten, der mal die Geschehnisse ironisch kommentiert, zuweilen gar direkt seine Leser adressiert – eher ungewöhnlich für einen konventionellen Kriminalroman. Spätestens an dieser Stelle jedoch sollten die Kenner der französischen Literatur aufhorchen: Wiederkehrende Figuren, allwissender Erzähler, eine Präsidentin namens Séchard, ein Innenminister mit Namen Beauséant, Manerville als Umweltminister – hier hat offenbar jemand Pate gestanden, der einige Erfahrungen mit Machtspielen, Intrigen und teils deftigen Gesellschaftsanalysen hat, nämlich niemand Geringeres als der Schöpfer der Comédie Humaine, Honoré de Balzac. Das Spiel mit den Figurennamen zieht sich tatsächlich durch die gesamte Handlung von Leroys Roman, so heißt der glücklose Gesundheitsminister Bianchon (gescheiterter Arzt bei Balzac), der Ex-Premierminister Marsay (Dandy bei Balzac), der aktuelle Premierminister Vandenesse (ebenfalls eine Dandy-Figur), die mordshungrige Leibwächterin des Innenministers hört auf den Namen Corentin (zwielichtiger Polizeichef bei Balzac), usw. Man könnte daher zum Schluss kommen, dass es sich bei Les derniers jours des fauves nicht nur um einen weiteren Schlüsselroman auf die aktuelle politische Lage in Frankreich handelt, sondern darüber hinaus um einen Schlüsselroman zweiter Ordnung, der auf lustvolle Weise das wohl größte Werk der französischen Literatur wiederauferstehen lässt. Wir haben es also im wahrsten Sinne des Wortes mit einem ‚literarischen‘ Krimi zu tun, was noch an weiteren Stellen der Handlung durchscheint und teilweise weit über die Balzac-Bezüge hinausgeht. So bestimmt das Spiel mit der Literatur ebenfalls die Auflösung des Plots am Ende, was hier jedoch aus guten Gründen nicht weiter ausgeführt werden soll (Zwinker-Smiley).
Spätestens jetzt stellt sich wohl die Frage: Funktioniert dieser vielschichtige Text überhaupt als spannender Kriminalroman? Hat man auch Spaß an der Lektüre, wenn man noch nie einen Roman von Balzac gelesen hat? Als Balzac-Fan und Gelegenheits-Krimileser fällt mir die Antwort zugegebenermaßen nicht leicht. Für den gemeinen Sebastian-Fitzek-Verschlinger bietet insbesondere die erste Hälfte von Les derniers jours des fauves sicherlich zu wenig Suspense. Leroy lässt sich viel Zeit, um seine Hauptfiguren eingehend vorzustellen: Die schöne Präsidentin mit ihrem deutlich jüngeren Lover, die 2017 mit ihrer neuen politischen Bewegung Société Nouvelle an die Macht gekommen ist; ihr durch und durch korrupter Innenminister, der reich geheiratet hat und die langen und zahlreichen Hitzetage mit seinem Clan auf einem mondänen Landsitz verbringt; der ehemals idealistische Umweltminister, dessen einziger Tochter Clio seine ganze Zuneigung und Fürsorge gilt. All das wird angereichert mit der Darstellung von Lockdown, Dürre und Unruhen. Es brodelt buchstäblich. Als dann die Präsidentin in der Mitte des Romans im Rahmen einer Fernsehansprache ankündigt, nicht mehr kandidieren zu wollen, kippt das Ganze in eine mörderische Tour de Force, das Tempo wird enorm erhöht, bis am Ende nahezu alle Figuren beschädigt, korrumpiert oder im Sarg die Bühne wieder verlassen. Was die politische Lage angeht, bleibt Leroy ähnlich dystopisch wie schon in Le Bloc, auch wenn immerhin im September die ersten Regentropfen auf französischen Boden fallen. Was die Gewaltspirale angeht, geht er jedoch einen deutlichen Schritt weiter, was dann wieder bei den Fitzek-Lesern ein paar Pluspunkte einsammeln dürfte. In Frankreich gilt Leroy längst als Meister des zeitgenössischen Roman Noir – man würde ihm von ganzem Herzen wünschen, dass er auch jenseits der Grenzen seines krisengeschüttelten Heimatlandes den Erfolg erhielte, der ihm schon seit langem zusteht. Les derniers jours des fauves ist die perfekte Lektüre für die anstehenden Hundstage – intelligent, humorvoll, raffiniert und von bluttriefender Spannung.
Jérôme Leroy: Les derniers jours des fauves, Paris: Manufacture 2022, 432 S. Auf Deutsch in der Übersetzung von Cornelia Wend unter dem Titel Die letzten Tage der Raubtiere in der Edition Nautilus 2023 erschienen.
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