Pas (d')un mot

Hélène Cixous’ neuester Roman "Mdeilmm"

Veröffentlicht am
13.3.2023
Jan Paul Theis

Jan Paul Theis

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Gleich zu Beginn ihres neuen Romans teilt uns die Autorin Hélène Cixous ihre eigene Lektüreerfahrung in Bezug auf Dostojewskis Der Idiot mit: „[O]n ne peut pas s’arrêter de parcourir les pages, l’une après l’autre, on es envoûté“ (, dt.: „Man kann nicht aufhören, die Seiten durchzublättern, eine nach der anderen, man ist wie verzaubert“). Mit diesem Gefühl der Verzauberung verläuft dann auch die eigene Lektüre von Mdeilmm, den Hélène Cixous 2022 veröffentlichte. Die 1937 im algerischen Oran geborene Autorin bleibt auch hier ihrem Schreibstil, der écriture féminine, treu: Satzabbrüche, ein häufiger Sprecherwechsel sowie eine an vielen Stellen wegfallende Interpunktion reißen den Leser mit in die Gedanken- und Lebenswelt der Erzählerin. Wie sonst auch, handelt es sich hierbei um eine Ich-Erzählerin, die uns an verschiedenen Momenten ihres Lebens teilnehmen lässt: Wir sind dabei, wenn sie ihrer Mutter einen Mord gesteht, den sie nie begangen hat, wenn sie ihrer Mutter zu anderem Schuhwerk rät, aber auch bei dem Attentat am 4. November 1995 auf den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin sowie an einer ,Séance‘, in deren Verlauf Victor Hugo mit dem Geist Shakespeares kommuniziert.

Zu Beginn des Textes steht die universalistische Idee, dass alle Menschen trotz ihrer diversen Unterschiede im Kern etwas gemeinsam haben: die Gewissheit, einmal sterben zu müssen. Diese Gewissheit bestimmt auch die Atmosphäre des Geschriebenen, das dadurch als regelrechter Nekrolog zu bezeichnen wäre. Die Erzählerin, die bereits im ersten Satz des Buches auf ihre Einsamkeit hinweist, fühlt sich durch das Gespräch mit ihrem Sohn, das von ihren unterschiedlichen Leseerfahrungen von Dostojewskis Der Idiot handelt, immer stärker an ihre eigene Sterblichkeit erinnert. Dieser Gedanke leitet hin zur Thematik, die im Zentrum dieses Buches steht: das Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer Welt, die von Tod gezeichnet ist, in der es jedoch auch immer wieder gelingt, ebenjener Ohnmacht für einen kurzen Moment zu entkommen. Wie so oft vermischt auch hier Cixous wieder das Private mit dem Öffentlichen, mal erinnert sie uns an den Tod ihres Großvaters Michael Klein, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist, mal an den Tod ihres Vaters Dr. Georges Cixous, der mit 39 Jahren an den Folgen der Tuberkulose verstarb. Immer wieder wird auch die ganz große Weltliteratur anzitiert, um das Thema auch von dieser Warte aus zu bearbeiten. Neben dem bereits erwähnten Dostojewski spielt auch Hugo eine Rolle oder der – wenn’s um Leben und Tod geht – vielleicht sogar offensichtlichste: Shakespeare. Wie in einem guten Drama befindet sich so auch der Leser inmitten des Ringens zwischen Hoffnung und dem ohnmächtigen Gefühl, dem Tod und der Welt hilflos ausgeliefert zu sein. Gleichzeitig wird ihm jedoch klar, dass dies kein Entweder-Oder bedeutet, sondern dass sich der Mensch als solcher immer zwischen beidem hin- und herbewegt. So hat Cixous’ neuester Roman auch hoffnungsvolle Momente. Sich der Gewissheit des Todes zu stellen, wird zur Hauptaufgabe des Lebens. Anders gesagt: Leben wird allererst durch die Reflexion des eigenen Todes ermöglicht.

Der gesamte Roman bildet hierbei einen Ort der Kommunikation mit den Toten und den Lebenden. Dies verdeutlicht auch der Titel Mdeilmm, der einen typischen titre cixousien darstellt. Dieses Nicht-Wort, das sich der Autorin aufdrängte, soll der Ausruf vom Geiste Shakespeares gegenüber Victor Hugo sein, den dieser im Rahmen einer ,Séance‘ vernahm, die der französische Schriftsteller einst während seines Exils auf der Insel Jersey abgehalten hatte. So zeugt dieser Begriff, der in keinerlei Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit steht und sich auf nichts Reales bezieht, von ebendieser Beziehung zwischen Leben und Tod. Wie auch der Roman an sich verweist der Titel auf eine généalogie des Revenants. Den Leser verzaubernd erweist sich Hélène Cixous erneut als Meisterin der écriture féminine und führt uns auf eine Reise, auf der einem alles Verlorengeglaubte wieder begegnet. Sie eröffnet eine Welt, in der trotz sämtlicher Gräuel Oasen der Hoffnung entstehen. Sich in diesen Oasen niederzulassen bedeutet, sich den existenziellen Fragen des Menschseins zu stellen, ohne sich ohnmächtig in ebendiesen zu verlieren.

Der Roman richtet sich sowohl an Cixous-Begeisterte als auch an diejenigen, die zum ersten Mal mit der algerischen Schriftstellerin in Berührung kommen. Wie bei allen ihren Texten handelt es sich um ein Buch, das sich an alle Menschen richtet, was nicht zuletzt an der existentiellen Bedeutung der im Text behandelten Themen liegt. So ist das Buch jedem zu empfehlen, der, neben seiner Freude an experimentellen Schreibweisen, einen Einblick in Grundsatzfragen der menschlichen Lebensbedingungen erhalten möchte. Wieder einmal ist der Autorin ein Roman gelungen, der dem Leser die Identität der Ich-Erzählerin ein Stück näher bringt.

Hélène Cixous: Mdeilmm, Paris: Gallimard 2022. Bisher ist der Roman noch nicht in deutscher Übersetzung erschienen. Für eine weitere Einführung in Cixous' Schreibweise empfehlen wir Ihnen den Artikel "...disent les signifiées" von Jan Paul Theis unter diesem Link.

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