Und sieh’, wie sie tanzen vor Glück

Mit "Regardez-nous danser" (2022) legt Leïla Slimani den zweiten Band ihrer Familiensaga "Le pays des autres" vor

Veröffentlicht am
5.6.2022
Lars Henk

Lars Henk

RPTU in Landau
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Während im ersten Band ihrer Trilogie Le pays des autres der ,Citrange‘-Baum das elementare Bild ist, um die Lebensbedingungen sowie die Ängste der Familie von Amine und Mathilde in den 1950er Jahren zu verdeutlichen, überrascht es die Leser des zweiten Bandes Regardez-nous danser, dass just dieser Mischlingsbaum zu Beginn des Romans, der zehn Jahre nach der marokkanischen Unabhängigkeit einsetzt, niedergerissen wird: Mathilde beobachtet die Arbeiter aus dem Fenster, die mit schwerem Gerät den ganzen Garten ausheben, um ein Schwimmbad zu errichten. Unter der marokkanischen Sonne entsteht also für die Familie Belhaj ein Swimmingpool, ein unübersehbares Zeichen des Wohlstands, den der Agrarökonom seinem Land allen Widerständen zum Trotz abgerungen hat. In der Tat besitzen die neuen Agrar-Bourgeois in Marokko als Zeichen ihres gesellschaftlichen Aufstiegs alle einen Pool, um sich in den heißen Sommerstunden nach der physisch anstrengenden Arbeit abzukühlen. Der soziale Status der Familie Belhaj scheint auch im Blick der anderen gefestigt, gar zementiert.

Bedeutet dies, dass die Familie kein ,Citrange‘-Leben mehr führt? Heißt dies, dass das ‚Land der anderen‘ endlich (wieder) das eigene geworden ist? Diese Fragen, die sich die Leser am Ende des ersten Bandes gestellt haben, sind ebenfalls nach dem ersten Kapitel des nachfolgenden Romans leitend. Gegen jeden hoffnungsfrohen Idealismus lässt gleich das zweite Kapitel keinen Zweifel daran, dass Mathilde in Marokko immer noch eine Fremde ist. Die Entfremdung von ihrem Ehemann ist sogar noch angewachsen: Ausdruck dessen ist, dass sie als verantwortliche Buchhalterin geschickt jede Woche ohne Skrupel einen Teil des Geldes abzwackt, den die Bewirtschaftung des Landguts abwirft. Darin sieht sie eine Kompensation ihres entbehrungsreichen Lebens sowie des kompromittierenden Verhaltens von Amine ihr gegenüber, der, mit dem Alter stets attraktiver werdend, seine Frau durchgängig betrügt und dies versucht, mit getrennten Schlafzimmern zu verdecken. Slimani gelingt es, Mathildes Desillusionierung angesichts ihrer Lage mit nur einem einzigen Satz auszudrücken, dessen Komposition, Einfachheit und Eleganz einnehmend sind: „Même le vert de ses yeux avait perdu son éclat, comme une robe qu’on a trop portée.“ (S. 22) „Sogar das Grün ihrer Augen hatte ihre Strahlkraft verloren, gleich einem zu oft getragenen Kleid.“) Mathilde hat das Leuchten ihrer Augen, einen Teil ihrer Identität, durch die verzehrende Wiederholung des Alltags verloren. Ihre Opfer für das gemeinsame Leben und ihre Resignation drückt Slimani ebenso in einem weiteren markanten Satz aus, der erneut an den Blick ihrer Augen gebunden wird: „Combien de fois ai-je regardé bouillir l’eau?“ ((S. 163) „Wie oft habe ich das Wasser schon aufkochen sehen?“) Unzählige Male wird Mathilde für ihre Familie Wasser erhitzt haben, um das Essen vorzubereiten, um den Boden zu wischen, ohne dass ihr dafür Anerkennung zuteil geworden ist. Anerkennung bleibt jedoch, woran Slimani schmerzhaft erinnert, der öffentlichen Sphäre der Männer in Gestalt der Ehre vorbehalten. Umso versöhnlicher ist vor diesem Hintergrund die titelgebende Episode, mit der der Roman endet. Mathilde teilt ihrem Ehemann die Geburt ihres ersten Enkelkindes mit, woraufhin ihm die Tränen über die Wangen laufen und beide, unter den Blicken der Umstehenden, beginnen im Dezember miteinander zu tanzen. Ist es nicht aufschlussreich für die conditio femina, dass Mathilde den letzten, an Amine auf Arabisch gerichteten Satz ausspricht: „Tu es heureux, n’est-ce pas?“ („Du bist glücklich, nicht wahr?“) Bleibt ihr Glück nicht eine Leerstelle, die zwischen den Zeilen zu suchen ist?

Doch auch unabhängig von diesem alles durchdringenden, privaten Glücksmoment, der Amine und Mathilde wieder zu vereinen vermag, ist die Fremdheit in Marokko nach wie vor die bestimmende Erfahrung. Dies wird in Mathildes lapidarer Einsicht verdichtet, dass sich die marokkanische Gesellschaft in den zehn Jahren nach der Unabhängigkeit nicht wirklich gewandelt habe. Das zeigt sich anhand der Lebensweisen, die für die junge Bevölkerung allenfalls in der Stadt toleranter geworden sind, aber sicherlich nicht auf dem Land. Lediglich in den großen Städten wie Rabat kann die Jugend dem Alltag entfliehen und es sich in den zahlreichen Tanzbars gemütlich machen, wo amerikanische Musik gespielt wird. In den ländlichen Regionen verhält es sich nach wie vor anders. Der Wind der Unabhängigkeit, gar der Freiheit weht nicht überall gleich stark. So wird eine schwangere, unverheiratete junge Frau von einem Großteil der ländlichen Gemeinschaft kurz vor der Geburt ihrem Leid überlassen. Es ist dem couragierten Eingreifen eines der Arbeiter zu verdanken, dass die Frau gerettet werden kann, denn er sucht bei Mathilde, Amine und Aïcha Hilfe. Das totgeborene Kind wird als Symbol des Fehltritts und der Schande seiner Mutter gedeutet. Muss eigens erwähnt werden, dass die junge Frau wiederum den Tag nach ihrer Niederkunft von dem besagten couragierten Arbeiter auf die Straße gesetzt wird?

Nach wie vor gilt für Slimanis Schreiben, dass sie all diese Entwicklungen präzise, in starken Bildern und ohne Wertung einfängt. Eine weitere Stärke des ersten Bandes setzt sie ebenfalls fort, nämlich die privaten, soziopolitischen und -kulturellen Fäden zu verknüpfen. Im Unterschied zum ersten Band trifft die politische Situation die Charaktere nicht mehr so hart– man denke an die Autoszene, in der die Familie Belhaj das Opfer von nationalistischer Gewalt wird. Zu den politisch wichtigen Ereignissen, die Slimani erzählt, zählt die Zunahme der politischen Spannungen, als der von Amine angebetete König Hassan II. von Attentaten und einem Militärputsch heimgesucht wird. Aus kultureller Perspektive ruft der Besuch von Roland Barthes, der an der Uni unterrichten wird, Begeisterung im Milieu der Intellektuellen hervor. Barthes’ Semiologie, die in der Welt berühmt ist, kann der armen Landbevölkerung jedoch nicht ihren Hunger nehmen. Slimani lässt keinen Zweifel daran, dass kulturelles Wachstum in den Städten von Armut und Terror überschattet wird. Nach wie vor schildert sie uns eine zutiefst zerrissene Welt.

Wie im ersten Band spürt Slimani auch den Protagonisten, ihren Leben, ihren Wünschen, Sehnsüchten, Träumen, ihren Irrungen und Wirrungen überwiegend gekonnt nach. Dies gilt für Selim und seine Tante Selma, diese beiden Erfolglosen und vom Leben Enttäuschten, die in ihrer Familie marginalisiert werden und die schließlich für eine kurze Weile zueinanderfinden. Slimani schildert, wie sich die Ungeliebten einander hingeben, ganz ohne inzestuöse Skrupel. Selim, der Anerkennung lediglich für sein Schwimmtalent bekommt, in einem Element also, das sein Vater fürchtet, schafft das Abitur nicht und begibt sich nach der finalen Zurückweisung seiner Tante auf die Suche nach dem Sinn seiner Existenz. Kurzweilig findet er diesen in der Welt der freien Liebe, wie sie von der Hippiekultur propagiert wird. Ja, Selim bricht schweigend mit seiner Familie und verschwindet – und bleibt verschwunden. Selma wird schließlich nach dem Unfalltod ihres Ehemannes Mourad zu einer gefragten Eskortdame, die sich aushalten lässt. Zu den starken Charakterzeichnungen zählt vor allem ihre Tochter Sabah, die im Gesicht von dem Abtreibungsversuch ihrer Mutter gezeichnet ist und die allein im Pensionat ausharren muss, bis sie dieselben Fehler wie ihre Mutter zu begehen scheint. Slimani erweckt die Protagonisten mit ihrer Gabe, Charaktere mit wenigen Pinselstrichen zu zeichnen, wirklich zum Leben! Davon gibt insbesondere die Begegnung am Flughafen zwischen Amine und seiner Tochter Aufschluss, die als brillante Medizinstudentin die Semesterferien zuhause verbringt. Er erkennt sie nicht, weil sie eine neue Frisur hat und einen kurzen Rock trägt. Für einen Augenblick scheint er sie sogar für eine mit ihm flirtende Frau zu halten, worüber er nach der Erkenntnis, wen er vor sich hat, selbst enttäuscht ist.

Slimani verhandelt nicht nur eine Chronik der marokkanischen Gesellschaft, sondern auch der Generationen, die aufeinandertreffen. An deren ungeschickten Begegnungen lässt sie uns teilhaben. Slimani lässt auch Entwicklungen ihrer Protagonisten zu, wie sie anhand von Omar zeigt. Während dieser im ersten Band als unsympathischer, eifersüchtiger Patriarch erschien, wird er nun als ängstlicher Mann ohne Familie und Freunde dargestellt, der durch die Annäherung an seine Schwester Selma sein defizitäres Leben zu kompensieren versucht. Auch der Hass auf seinen Bruder ist wohl gewichen, weil Omar, der nach der Unabhängigkeit einen hohen Posten in der marokkanischen Polizei mit engem Kontakt zum Königshaus ergattern konnte, sich auf die Suche nach seinem Neffen Selim begibt.

Leila Slimani führt gekonnt die Geschichte einer jungen Nation auf der Suche nach sich selbst anhand der verschiedenen Belhaj-Generationen weiter. Folgerichtig liegt im zweiten Band ihr Hauptaugenmerk auf den Kindern von Amine und Mathilde. Manchmal verliert sie unter der Vielzahl ihrer Protagonisten etwas den Überblick: Die Liebesbeziehung von Aïcha und Méhdi kommt aus dem Nichts, das Verschwinden von Selim spielt in der Familie keine Rolle, bis dass Omar sich auf die Suche begibt. Dies wirkt im Vergleich zum ersten Teil der Trilogie an manchen Stellen etwas unausgegoren. Möglicherweise werden diese losen Fäden aber auch noch im letzten Band zu Ende erzählt. Fortsetzung folgt.

Leïla Slimani: Regardez-nous danser erschien 2020 bei Gallimard, 367 S.

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