Wir wissen, dass wir nichts wissen

Julia Encke versucht, das Rätsel Houellebecq zu entschlüsseln

Veröffentlicht am
17.8.2021
Gregor Schuhen

Gregor Schuhen

RPTU in Landau
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Als der frisch zur Süddeutschen Zeitung gewechselte Literaturredakteur Thomas Steinfeld im Jahr 2001 einen Sammelband zu Michel Houellebecq veröffentlichte, waren in Deutschland gerade mal die ersten beiden seiner Romane erschienen: Ausweitung der Kampfzone und Elementarteilchen (beide 1999) – daneben zwei Bände mit Gedichten. Trotz der noch mageren Ausbeute annoncierte Steinfelds Band, in dem im Wesentlichen Rezensionen und Interviews wiederabgedruckt wurden, eine Annäherung an das „Phänomen Houellebecq“ – so auch der Titel des Buches. Nicht weniger als 16 Jahre später liegt nun die erste deutschsprachige Monografie zum französischen Erfolgsautor vor, verfasst von Steinfelds Kollegin Julia Encke, seit kurzem Feuilletonchefin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Unter der Leitfrage „Wer ist Michel Houellebecq?“ liefert Encke eine vorzügliche, angenehm unverkrampfte und sehr gut lesbare Einführung in das Leben und Werk des immer streitbaren Franzosen.

Dass es sich nicht um eine klassische Biografie handelt, macht Encke gleich im ersten Kapitel deutlich, das sie ironisch mit „Was wir nicht wissen“ überschrieben hat. Angefangen beim unsicheren Geburtsjahr (1956 oder 1958?), der katastrophalen Beziehung zu seiner Mutter über die folgenden Lebensstationen bis zu seinem Durchbruch als Schriftsteller stehen uns tatsächlich nur wenige gesicherte Informationen über das Leben von Michel Houellebecq zur Verfügung. Auch von seinen beiden Ehen und seinem Sohn weiß man so gut wie nichts. Die Tatsache, dass Houellebecq seit der Jahrtausendwende zusehends zur öffentlichen Figur inmitten des Pariser Literaturbetriebs wurde, ändert daran nur wenig, und das wiederum liegt, so Encke, primär an seinen Werken. Darin tauchen immer wieder männliche Hauptfiguren mittleren Alters auf, die nicht selten den Namen Michel tragen, eher Antihelden sind als Helden, und ihrem Schöpfer mitunter nicht nur aufgrund phänotypischer Ähnlichkeiten sehr nahe stehen. Daher, so Encke, verwische Houellebecq seit seinem ersten Roman konsequent und planmäßig die Grenzen zwischen Figuren- und Autorenrede und mache diese Unsicherheit zu seinem Markenzeichen. Nicht zuletzt führt diese Unentscheidbarkeit auch in regelmäßigen Abständen zu standardmäßig etablierten und daher wohlkalkulierten Skandalen. Insbesondere seine ambivalente Einstellung zum Islam, den er einst als „bescheuertste aller Religionen“ bezeichnete, aber auch sein Loblied auf Donald Trump oder seine Ablehnung der EU sorgen immer wieder für Aufschreie und Kontroversen. Es ist demnach vollkommen egal, ob wir einen Essay, ein Interview oder einen Roman von Houellebecq lesen – der Sound ist stets derselbe, was es unmöglich macht, die Autorenpersona Houellebecq zu greifen.

Zu den großen Verdiensten von Enckes Porträt gehört es, dass es ihr gelingt, eine spannende Narration zu liefern, indem sie sich an den Hauptwerken Houellebecqs orientiert, die sie nach und nach vorstellt, so dass auch Unkundige ihren Ausführungen gut folgen können. Dabei entwickelt sie eine nachvollziehbare Abfolge von Metamorphosen, die Houellebecq im Laufe seiner Karriere durchlaufen hat: vom Schriftsteller zum Provokateur, vom Romantiker zum Gewinner und schließlich zum Visionär. Auch wenn diese Abfolge chronologisch verläuft, muss man sich klar machen, dass es sich hierbei keineswegs um die Häutungen einer Schlange handelt, sondern vielmehr um die Scheiben einer Zwiebel, denn das Phänomen Houellebecq ist nicht das eine oder das andere, sondern immer alles zusammen. Die Komplexität seiner Selbst­inszenierung legt Encke Schicht um Schicht frei und macht dabei keinen großen Hehl aus ihrer Faszination für den derzeit erfolgreichsten Schriftsteller Frankreichs.

Dass sie sich vornehmlich auf journalistische Quellen stützt und die umfangreiche Forschungsliteratur zu Houellebecq so gut wie gar nicht zur Kenntnis nimmt, stört kaum – vermutlich hätte es der Lesbarkeit eher geschadet als genutzt. Besonders wichtig ist ihr – und das kommt auch gerade in der Houellebecq-Forschung viel zu kurz –, auf den glänzenden Humor des Franzosen aufmerksam zu machen, der nur allzu oft in den düsteren Zukunftsvisionen und pornografischen Exzessen untergeht. Und tatsächlich kann man ihn beinahe lachen hören, wenn man auf Sätze stößt, in denen Houellebecq Donald Trump die Ehrenurkunde als bester Präsident ausstellt, den die USA jemals hatten, oder wenn er sein eigenes Alter Ego in seinem Goncourt-gekrönten Roman La Carte et le Territoire (2011, dt. Karte und Gebiet) in bester Tarantino-Manier besonders brutal abschlachten lässt. Encke gelingt es, diesen überaus wichtigen und gemeinhin unterschätzten Aspekt im Leben und Werk Houellebecqs ausdrücklich zu würdigen. Vielleicht wäre es sogar sinnvoll gewesen, den von Encke angeführten Metamorphosen des Meisters noch eine weitere Facette hinzuzufügen, nämlich den Narren. Auch wenn Encke das nicht so deutlich benennt, ist doch Houellebecq genau das: der Hofnarr des französischen Volkes, der von seiner Narrenfreiheit nicht nur weidlich Gebrauch macht, sondern sie gleichsam zu seiner Daseinsberechtigung erkoren hat.

Julia Encke: Wer ist Michel Houellebecq? Porträt eines Provokateurs, Berlin: Rowohlt 2017, 209 S.

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